Ein Gespräch
mit Marco Tullner
und Frank Michaelis

Ist der Bildungsföderalismus zeitgemäß?

Lieber Frank Michaelis, lieber Marco Tullner, bevor wir zum Bildungsföderalismus in Deutschland kommen, wollen wir das Gespräch mit der Frage beginnen, woran Sie als Erstes denken, wenn es um das Thema Föderalismus geht?

Marco Tullner: Ich bin ja Historiker von Haus aus und finde, dass das föderale System an sich ein sehr positives ist, weil es Vielfalt zulässt und auch weil es manchmal scheinbar notwendige Modernisierungsprozesse verlangsamt, von denen man später merkt, dass sie ein Irrweg gewesen wären. Beides empfinde ich, gerade für Deutschland, als eine Bereicherung.

Frank Michaelis: Da kann ich anschließen. Für jemanden wie mich, der aus der zentralistischen Gesellschaft der ehemaligen DDR stammt, sind zwei Begriffe sehr wesentlich: Liberalismus und Föderalismus. Ich sehe darin die Einheit in der Vielfalt, sowohl in Deutschland, vergleiche das aber auch immer so ein bisschen mit der Thematik Europa, wo wir in der Geschichte viele, viele Irritationen, viele Kriege, viele nationalistische Bestrebungen hatten. Und die Entwicklung, die in Europa eingeschlagen wurde, die Zukunft eines friedlichen Europas, den Erhalt der kulturellen Eigenheit und Vielfalt in Europa zu sichern, aber auch den Menschen die Ängste zu nehmen vor einem vereinten Europa, das halte ich für sehr wesentlich. Gerade in einer Zeit des aufkeimenden Fremdenhasses und des Nationalismus in einzelnen Regionen Europas sehe ich das als sehr wesentlich an. Das ist natürlich auch in Deutschland ein aktuelles Problem, dass immer mehr Gruppierungen sich dem rechtsextremen Gedankengut verschreiben und sich der Fremdenhass leider in den vergangenen Jahren in Deutschland wieder kultiviert hat. Das ist eine große Aufgabe für unseren Föderalismus, dem entgegenzuwirken und der Einheit in der Vielfalt auch gerecht zu werden.

Viele Menschen verbinden mit dem Föderalismus sofort das Thema Bildung. Was denken Sie, wo kommt das her?

Frank Michaelis: Für mich als Lehrer liegt das eigentlich auf der Hand: Jeder hat in seinem Leben Erfahrung mit der Schule gemacht. Viele haben im späteren Leben dann auch Kinder und Enkelkinder, sodass dieses Thema also immer wieder präsent wird. Ich selbst bin kein ausgemachter Freund des Bildungsföderalismus. Ich hab mir da seit Jahren so einen gültigen Spruch zugelegt: Föderalismus ist eine feine Sache, aber nicht in der Bildung. Und deshalb begrüße ich es sehr, dass es seit einigen Jahren einheitliche Bildungsstandards gibt, auf die sich die Bundesländer geeinigt haben. Es gibt daneben natürlich auch noch einheitliche Prüfungsanforderungen, und es gibt auch die Kompetenzorientierung, die in den Schulen für die Schüler geregelt wird, sodass auch der Föderalismus in dieser Hinsicht etwas ordentlich strukturiert werden kann.

Grundsätzlich müssten die Länder mehr Kompetenzen im Bereich des Bildungsföderalismus an den Bund abtreten. Ob die Zukunft in einem zentralistischen Bildungssystem liegt, weiß ich nicht.

Es wäre aber aus meiner Sicht sehr vorteilhaft, bestimmte Länderkompetenzen in die Hand des Bundes beim Thema Bildung zu übertragen.

Marco Tullner: Ich denke auch, es ist die Lebenserfahrung, vielleicht mehr im Osten als im Westen – da kann ich es nicht einschätzen.

Grundsätzlich müssten die Länder mehr Kompetenzen im Bereich des Bildungsföderalismus an den Bund abtreten. Ob die Zukunft in einem zentralistischen Bildungssystem liegt, weiß ich nicht.

Es hatte eine starke Orientierung auf Naturwissenschaften und auf Allgemeinbildung. Man merkte einfach daran, dass die Menschen aus Ostdeutschland nach der Wende sehr gut klar gekommen sind mit ihren Bildungserfahrungen im neuen System. Das hat ja auch damit etwas zu tun, dass man eine gute Bildung genossen hat. Jetzt kommt man aber in ein System rein, wo plötzlich statt von Berlin aus Bildung für Mathematik, Biologie und andere Fächer geplant wurde, es jetzt eine Dresdner Mathematik, eine Schweriner Mathematik und eine Magdeburger Mathematik gibt. Das leuchtet nicht so sehr ein. Deswegen, glaube ich, steht der Bildungsföderalismus im Osten vielleicht ein Stück weit mehr, aber im Westen mittlerweile auch, eher für Schwerfälligkeit, für Reformunfreude und auch für die Unfähigkeit, sich der modernen Zeit zu stellen.

30 Jahre gesamtdeutscher Föderalismus, das hat unterschiedliche Perspektiven aus Ost und West. Aber wird es auch immer mehr ein gesamtdeutsches Thema?

Marco Tullner: So nehme ich das in der Kultusministerkonferenz mittlerweile wahr. Man kann den Föderalismus gut und schlecht finden. Ich halte ihn für eher gut. Aber wenn man zu der Frage nach den Stärken des Föderalismus kommt, dann landet man zuallerletzt bei der Bildung. Das Bildungsthema ist international, allgemeinbildend, sozusagen nach naturwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Ich kann nicht erkennen, dass im Bildungsbereich der Föderalismus der Weisheit letzter Schluss ist.

Frank Michaelis: Zu der Frage, ob Föderalismus ein gesamtdeutsches Thema inzwischen geworden ist, gibt es von mir ein klares Ja. Durch die Teilung über Jahrzehnte war ja Deutschland, waren vor allem seine Menschen ausgestattet mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Werdegängen. Man sollte – und das muss man unterstreichen – nicht nur die Dinge hervorheben, die noch nicht so laufen, sondern sich auf die Dinge beziehen, die wir erreicht haben. Da sehe ich uns auf einem guten Weg. Mit den nächsten zwei, drei Generationen – ich möchte jetzt keine zeitliche Prognose treffen – wird sich der Föderalismus als gesamtdeutsches Thema auch stellen. Diese Unterschiede werden mit den neuen Generationen weitestgehend verloren gehen, was jetzt die Differenzen oder negativen Erfahrungen anbetrifft. Es werden viele gemeinsame Erfahrungen dementsprechend auch geschaffen werden.

Marco Tullner

Marco Tullner
Minister für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt

1989 – 1995 Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
1996 – 2001 wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft ebenda
2001 – 2002 Referent des Landtagspräsidenten a. D.,
Dr. Klaus Keitel
2002 – 2011 Mitglied des Landtages von Sachsen-Anhalt, finanz- und wissenschaftspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion
2011 – 2016 Staatssekretär
im Ministerium für Wissenschaft und Wirtschaft
des Landes Sachsen-Anhalt
seit 2016 Minister für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt

Frank Michaelis

Frank Michaelis
Lehrer Geschichte & Geografie Deutsche Internationale Schule in Abu Dabi

1957 in Lutherstadt Eisleben geboren

1974 – 1977 Berufsausbildung
mit Abitur zum Metallurgen für Er­zeugung
1979 – 1983 Studium zum Diplom-Lehrer für Geografie/Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin
seit 1983 im Schuldienst tätig
2008–2012 Deutsche Schule Rom
seit 2017 Deutsche Inter­nationale Schule in Abu Dhabi

Welche Rolle spielt die Kultusministerkonferenz, die KMK, beim Thema Föderalismus, für die Verschiedenheit oder auch Vergleichbarkeit der Bildungssysteme?

Marco Tullner: Die KMK ist ja im Kern ein Ministerium und zwar ein ziemlich großes, größer als das Bildungsministerium in Sachsen-Anhalt zum Beispiel. Die haben, glaube ich, mittlerweile fast 300 Leute in Bonn und Berlin in verschiedenen Bereichen sitzen. Ich glaube, unser Bildungssystem ist nicht so schlecht, wie wir denken. Aber der Aufwand, den wir betreiben, um dieses Ergebnis zu kriegen, ist immens.

Die Minister koordinieren sich mindestens einmal im Vierteljahr, die Staatssekretäre koordinieren sich, die Abteilungsleiter koordinieren sich, die Referatsleiter koordinieren sich – es ist ein unablässiger Koordinierungsaufwand, an dem ich, wenn ich in so einer Ministerkonferenz bin, oft beobachte, dass alle miteinander frustriert sind, dass man da eigentlich nur noch abnickt, was die Arbeitsebenen einem irgendwie ausgehandelt haben.

Der eigentliche Sinn einer Konferenz, um sich mal auszutauschen und mal bestimmte Themen auch strittig zu diskutieren, das spielt überhaupt keine Rolle. Ich beobachte, dass alle neuen Kollegen am Anfang irritiert sind über die Rituale und Prozesse und nach kurzer Zeit resignieren, weil man einfach das Gefühl hat, es ist ein zäher Prozess, wo man am Ende nicht wirklich viel erreichen kann.

Frank Michaelis: Aus meiner Sicht ist die KMK ein übergeordnetes Organ, das dafür zeichnet, grundlegende Leitlinien zu entwickeln, zum Beispiel die schon angesprochenen Bildungsstandards. Das halte ich auch für sehr wichtig, dass diese Sachen von den Bundesländern vereinheitlicht werden. Ich würde da an manchen Stellen auch noch einen Schritt weitergehen und Kompetenzen beim Bund bündeln. Da ich im Auslandsschulwesen arbeite, ist mir natürlich bewusst, dass die KMK auch dafür verantwortlich ist. Die Curricula und Vorgaben zum Beispiel für die Schulen der Nordhalbkugel – es gibt ja insgesamt 142 deutsche Auslandsschulen –, werden vom Bundesland Thüringen gesetzt, die Curricula für die Südhalbkugel vom Bundesland Baden-Württemberg. Das ist ja auch, denk ich mal, über die KMK so geregelt. Und sie führt auch die Schulaufsicht im Ausland, begleitet und evaluiert Schulen und Schulabschlüsse weltweit. Ganz aktuell ist die KMK auch im Krisenmanagement tätig, und während der Corona-Pandemie ist ihre Arbeit sowohl im Inland als auch im Ausland spürbar wirksam. Das ist auch gut so.

 

Wenn eine Mehrheit in Deutschland Bildung zentral geregelt haben will, dann müsste man man dem doch auch in irgendeiner Weise folgen?

Frank Michaelis: Normalerweise ist das ja so, dass die Politik auf die Bedürfnisse der Bürger eingeht, machbare Vorschläge und Ideen aufgreift und sich in sinnvoller Weise an die Spitze einer Bewegung setzen kann. Inwieweit die Länder und speziell auch der Bund in dieser Frage daran interessiert sind, kann ich nicht einschätzen. Ich weiß nur, dass es sinnvoll wäre, beispielsweise zentral die Übergänge zwischen den Schulformen zu regeln. Ich würde auch die Personalhoheit schrittweise in die Hände der Schulen legen. Ein sehr gutes Beispiel dafür, wo Erfahrungen massenhaft vorhanden sind, ist das Auslandsschulwesen, wo die Kandidaten durch die Schulleitungen geprüft und auch eingestellt werden und letztendlich der Schulvorstand dem dann entsprechend zustimmt.

Damit würde man auch den Erfahrungsschatz und auch die Kompetenzen der »Basis« miteinbeziehen können und hätte einen riesigen Fundus, der nach meiner Meinung hier in Deutschland, im innerdeutschen Schulsystem viel zu wenig genutzt wird.

Marco Tullner: Das Problem ist, es tut sich ja ein bisschen was, von außen angestoßen, Thema nationaler Bildungsrat, der jetzt zwar praktisch tot ist, aber der die Kultusministerkonferenz unter Druck gesetzt hat, einfach zu zeigen: Ist man überhaupt in der Lage, Reformen zu machen? Beim Thema Abitur sind wir einen Schritt vorangekommen – viel zu wenig, viel zu langsam, viel zu inkonsequent. Aber da bewegen wir uns zumindest auf ein gemeinsames Ziel hin: mehr Vergleichbarkeit, mehr nationales Level, auch mit Blick auf internationale Vergleichbarkeit. Es passiert etwas, aber dennoch zu wenig.

Im Kern scheint dieses föderale System nicht aus sich selbst heraus reformierbar zu sein. Jedes Land hat und pflegt seine Besonderheiten.

Um es mal an einem Beispiel plastisch aufzuzeigen, wie kurios das ist: Wir hatten im vergangenen Jahr in Wiesbaden eine Kultusministerkonferenz, in der es darum ging, welches Land welche Mathematikaufgaben für das Abitur entwirft. Das Saarland erklärte, man wolle sich daran nicht beteiligen, weil sie eine landestypische Formel entdeckt haben, nach der nicht a+b = c, sondern d+f = k ist. Das war dann die erklärte landesbedeutsame Identität, warum das Saarland nicht mitmacht. Wenn solche Motive handlungsleitend sind, erkennt man eher das Problem als die Lösung.

Stellt sich Ländern mit schlechteren Bildungsabschlüssen nicht die Frage, ob eine gemeinsame Bildungspolitik für alle nicht gewinnbringend wäre?

Marco Tullner: Als die Debatte um den Bildungsstaatsvertrag auf dem Höhepunkt war, habe ich dem Bund angeboten, in Sachsen-Anhalt nationale Bildungspolitik einmal exemplarisch zu dokumentieren. Der eigentlich Punkt ist aber: Wie kann ein System, in dem einstimmig entschieden wird, überhaupt etwas reformieren. Das einzelne Land hat zu wenig Spielraum, um selbst Dinge auszuprobieren, weil immer hergebrachte KMK-Richtlinien dagegenstehen. Ein Beispiel: Wegen Lehrermangels wirbt ein Land um Lehrer von außen. Das gab einen Rieseneklat –
da kamen Emotionen hoch –, weil der hessische Kollege auf dem Frankfurter Hauptbahnhof ein Plakat entdeckte, auf dem Berlin rief: Lehrer aller Welt kommt nach Berlin! Das ist emotional vielleicht nachvollziehbar. Aber wenn ein Land im Internet wirbt, wo die Landesgrenzen überhaupt keine Rolle spielen, merkt man, wie antiquiert manche KMK-Beschlüsse wirken. Wenn ein Land versucht, Reformen anzustoßen, stößt es oft genug an Grenzen des Bildungsföderalismus.

Frank Michaelis: Allgemein würde ich sagen, dass es in Deutschland ja eine ganze Menge eingefahrener Systeme gibt, allein durch die 16 Bundesländer. Dann kommt noch der Fakt dazu, dass man trotz mancher »Neuerungen« nach der nächsten Landtagswahl dementsprechend immer wieder dazu kommt, dass alte Krusten nicht oder nur teilweise aufgebrochen werden. Ich halte es für besonders notwendig, dass eine hohe Bereitschaft zu Veränderungen vorliegt, vor allen Dingen auch in den Bundesländern. Ein spezielles Beispiel dafür sind für mich immer wieder einberufene Expertengremien bzw. teure Studien, die dann innerhalb des Schulbildungswesens durchgeführt werden, die den Bund und teilweise auch die Länder viel, viel Geld kosten. Da bräuchte man eigentlich nur die kompetenten Kollegen an der Basis fragen, die mit ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz oftmals solche Studien begleitend belächeln, weil sie die Ergebnisse eigentlich schon kennen.

Das heißt, man würde zwar was machen, aber am Ende schrecken alle davor zurück, weil sie weder die Mehrheit sehen nocht die Ersten sein wollen, die es einführen. Was sagen eigentlich die Gewerkschaften und die Lehrerverbände selber zu diesem Bildungsföderalismus?

Frank Michaelis: Das ist ein schwieriges Thema. Ich bin selbst langjähriges Gewerkschaftsmitglied und kann nur sagen, die Gewerkschaften kämpfen für mehr Gerechtigkeit im Schulsystem. Sie ringen mit den 16 Bundesländern um entsprechende Tarifvereinbarungen. Leider sind wir 30 Jahre nach der Wende immer noch nicht am Ziel. Das Prinzip »Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit« ist durch die Teilung in Tarifgebiete, die es leider immer noch gibt, wie beispielsweise Ost und West, auch im Auslandsschulwesen, nicht garantiert. Ich halte auch die Teilung von Gewerkschaften und Lehrerverbänden nicht für zielführend. Für mich bedeutet das immer viel zu viel Klein-Klein. Die Beispiele der Vergangenheit zeigen, dass sich die einzelnen Lehrerverbände oftmals sofort aus den Tarifverhandlungen zurückgezogen haben, wenn sie auch nur einzelne Ziele, also Teilziele, für ihr Klientel erreicht haben, und dann im Prinzip auch die Gewerkschaften allein am Tisch saßen. Das spiegelt auf der einen Seite zwar Föderalismus wider, die Vielfalt, auf der anderen Seite ist es für Verhandlungen im Föderalismus aber nicht gerade förderlich. Solange es 16 Bundesländer mit 16 Bildungssystemen gibt, solange diese existieren, haben die Gewerkschaften viele Baustellen gleichzeitig zu bearbeiten. In einem zentraleren Bildungssystem – ich betone nicht zentral, sondern zentraler – wäre manches eher machbar.

Marco Tullner: Die Wahrnehmung kann ich ein Stück weit teilen. Die Hauptkampflinien liegen meist in den Ländern, weil dort über die Besoldung von Lehrern und andere für Lehrer relevante Themen entschieden wird. Auf der Gewerkschaftsseite vermisse ich eher eine gesamtstaatliche Verantwortung. Es wird nur Klientelpolitik für Lehrer betrieben. Aber man spürt keine Verantwortung über den Tag hinaus. Ich nehme dann eher eine gewisse Maßlosigkeit wahr, weil man Ressourcen überreizt. Die Länder sind im Moment wegen Lehrermangels und Elternprotesten natürlich sehr bemüht, Dinge zu verbessern. Aber wenn man eine Gesamtverantwortung trägt, muss man auch sehen, dass ein Lehrer eben sieben Jahre für die Ausbildung braucht. Diese Rahmenbedingungen geraten bei den Forderungen im Moment etwas aus dem Blick. Die Länder sollen möglichst sofort leere Stellen besetzen, Quoten erfüllen. Die Qualitätsdebatte, die Frage, wozu betreiben wir eigentlich Schule, da spielen Lehrer natürlich eine große Rolle, aber am Ende ist Schule für die Kinder da, dass die Kinder gut gebildet im Leben ankommen. Das gerät bei diesen Fragen viel zu oft aus dem Blick. Man macht Tagespolitik, aber die langfristige Perspektive gerät völlig aus dem Blick.

Wir reden hier über Probleme in Deutschland. Aber wie steht es in Amerika, in Skandinavien, in Asien? Dort sind die Ergebnisse doch oftmals besser als bei uns?

Frank Michaelis: Aus meiner Sicht kann ich sagen, dass in Asien beispielsweise der Leistungsdruck für die Schüler in allen Schulformen wesentlich größer als in Deutschland ist. Ich weiß nicht und hätte auch Bedenken, wie ein solcher Druck in unserem Bildungssystem überhaupt anwendbar wäre. In China gibt es sehr rigide Schulschranken mit extrem beschwerlichen Prüfungen, die dann die Zulassung zur jeweils nächsten Schulstufe, also zum Beispiel den Übergang Grundschule zum Sekundarbereich oder Sekundarbereich nachher zum Gymnasium und erst recht dann vom Gymnasium zum Studium regulieren. Dann vielleicht noch kurz zu Nordeuropa: Finnland hat ja beispielsweise die Struktur des DDR-Bildungswesens studiert und daraus seine Schlüsse gezogen, um auch ein bisschen zentral zu arbeiten. Die Erfolge gehen sicherlich nicht allein auf diesen Ansatz zurück. Aber zumindest ist es auch ein Fingerzeig, auf welchen Grundlagen die Finnen dort ihre Erfolge vorbereitet haben. Das Schulsystem in Schweden setzt auf eine längere gemeinsame Schulzeit, um auch die sozialen Kompetenzen in den Altersstufen besser auszuprägen und dementsprechend den Schwächeren nicht zu vergessen, aber auch den Stärkeren in gesellschaftliche Prozesse der Unterstützung Schwächerer einzubinden.

Marco Tullner: Ich denke, wir müssen immer nach den Maßstäben fragen. Mein Vater erzählte mir, dass er zur Grundschule bei Wind und Wetter 20 Kilometer laufen musste – und er ist Professor geworden. Diese Verhältnisse wollen wir nicht zurückhaben. Aber die Vorstellung, dass die Schule keine Leistung einfordert, weil es dabei auch schlechte Noten gibt, ist nicht haltbar. Es ist auch nicht möglich, die Wohnortnähe als alleiniges Kriterium für Schule in den Blick zu nehmen. Wenn man die Schule im ländlichen Raum mit wenigen Einwohnern wohnortnah organisiert, dann hat man möglicherweise Abstriche bei der Qualität hinzunehmen. Will man das?

Wir kommen in eine Befindlichkeitsdebatte, anstatt uns die Frage nach dem Sinn des staatlichen Schulsystems und dem effizientesten Einsatz von Ressourcen zu stellen.

Wir wollen, dass die Kinder gut gebildet sind, dass gute Lehrer bei vernünftigen Arbeitsbedingungen unterrichten und dass die Eltern darauf vertrauen können, dass Schule ihre Erwartungen erfüllt.

 

Das hieße, der Zentralstaat gibt die Standards vor und die Länder richten sich danach.

Marco Tullner: Ich glaube, dass wir dahin kommen werden. Man kann keinem Menschen in Deutschland erklären, dass in Mathematik föderale Gesetzmäßigkeiten gelten. Mathematik ist Mathematik. Das gilt auch für Deutsch, für Fremdsprachen und andere Fächer. Es gibt sicher im heimatkundlichen Bereich, im geografischen Bereich, im historischen Bereich ein paar regionale Befindlichkeiten, die man abbilden kann und muss. Mein Idealbild wäre: nationale Bildungsstandards, seien sie vom Bund verordnet oder föderal vereinbart. Föderale Ausprägungen mit ein paar regionaltypischen, ländertypischen Besonderheiten, die sich bei Landeskunde, Traditionspflege, Heimat und Geschichte abbilden können, sollten möglich sein. Die Kommunen leben das dann aus, weil sie am Nächsten an den Bürgern dran sind. Darauf muss es hinlaufen, aber davon sind wir weit entfernt.

Frank Michaelis: Ja, wenn der Bund gewisse Regularien vorgibt – ich betone extra »gewisse« –, dann ist das auch für mich ein zukunftsweisender und gangbarer Weg und ein gangbares Zukunftsmodell, wobei ich aber zu bedenken gebe, dass beispielsweise auch hier regionale Besonderheiten trotzdem Besonderheiten bleiben können. Diese Kompetenzen sollten die Länder auch behalten und mit dem Bund gemeinsam um eine Verbesserung des Bildungswesens in Deutschland ringen. Ich glaube, dass ist im internationalen Wettbewerb nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend notwendig. Gerade die Digitalisierung, die wir Corona-bedingt momentan ja zwangsweise, vor allen Dingen aber an den Auslandsschulen positiv erleben, sollte wie seit 2008, 2010 oder 2012 immer wieder angekündigt endlich umgesetzt werden.

Damit stellt sich die Frage, welche Kompetenzen bleiben den Ländern, wenn der Bund praktisch für alles zuständig ist?

Frank Michaelis: Eben die regionalen Besonderheiten. Der Bund sollte sich auf die grundlegenden Dinge konzentrieren, das heißt die Kernkompetenzen, die Bildungsstandards, die einheitlichen Prüfungsanforderungen. Innerhalb dieses weit gesteckten Rahmens, der dann aber für alle bindend sein muss, um auch Vergleichbarkeit besser herzustellen, können und sollten die Länder mit ihren Spezifika weiterhin agieren. Darin liegt ja auch eine Chance, dass man sich entsprechend als Land neu orientiert und sagt, welche Kompetenz gibt man beispielsweise an den Bund ab, wo sieht man ein, dass es zentral geregelt vernünftiger und auch effektiver wäre? Welche Bereiche behält man? Wie setzt man zum Wohle der Schüler und auch der Zukunftsfähigkeit unseres Landes diese Dinge dann um? Und das gemeinsam würde dann doch eine effektivere Form ergeben im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten.

Marco Tullner: Am Ende musst du, wenn du selbstbewusster Föderalist bist, zu denen ich ja viele zähle, für dich definieren, was macht eigentlich den Föderalismus aus. Wenn du den Föderalismus immer nur als angstbezogen siehst, weil du was abgeben musst, dann ist es am Ende ein Angsthasen-Föderalismus. Das ist dann einfach eine Angst vor Bedeutungsverlust. Und wenn das eintritt, dann hat der Föderalismus sich eigentlich erledigt. Selbstbewusster Föderalismus muss stattdessen für sich die Kompetenzen definieren, die er ausfüllen möchte und ausfüllen kann, und das dann auch umsetzen.

 

 

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