Die Mittelschicht trägt den Sozialstaat

Die Angstverteilung war in jedem Bundesland gleich

Lieber Klaus Papenburg, welchen Aspekt verbinden Sie als Erstes mit dem deutschen Sozialstaat?

Spontan fällt mir dazu ein, dass unser Sozialstaat seine Wurzeln im Grundgesetz hat, sich aber zugleich in der sozialen Marktwirtschaft begründet. Und da bewegen wir uns in einem Spannungsfeld zwischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip. So, wie ich das Solidaritätsprinzip noch in Erinnerung habe von früher, geht es um die Unterstützung zunächst einmal des Schwächeren, dass die Allgemeinheit den Einzelnen unterstützen soll in den Problembereichen, die entstehen können, ob finanziell, in Fragen der Gesundheit oder dergleichen. Das Subsidiaritätsprinzip fordert, dass derjenige, der sich selber helfen kann, dies auch erst mal versucht und nicht gleich die Leistungen des Staates in Anspruch nimmt.

Deshalb muss es aus meiner Sicht immer einen Wettbewerb geben zwischen dem Solidaritätsprinzip – wo muss der Staat eingreifen, wo muss er unterstützen – und dem Subsidiaritätsprinzip – wo aber kann ich dem Bürger zumuten, dass er sich selber hilft.

Das ist meiner Meinung nach richtig, und das ist auch eine Errungenschaft der Deutschen, weil dieser Wettbewerb zwischen diesen beiden Prinzipien nirgendwo so stark verankert ist wie in unserer Demokratie.

Sie sind Familienunternehmer in Halle. Wie viele Menschen beschäftigen Sie dort?

Unser Gesamtunternehmen hat heute gut 4.000 Mitarbeitende, in meinem Aufgabenbereich sind über 2.500 Mitarbeitende, davon ein Großteil hier im mitteldeutschen Raum. Viele Mitarbeitende in meinem Aufgabenbereich haben die Erfahrung gemacht, einmal in der DDR aufgewachsen zu sein und auf der anderen Seite heute in der Bundesrepublik zu leben. Interessanterweise meinen viele von ihnen allerdings, dass wir gegenwärtig nicht in einer sozialen Marktwirtschaft, sondern doch eher im Kapitalismus leben. Ich bin schon noch der festen Überzeugung: Gott sei Dank leben wir nicht im Kapitalismus, sondern haben einen Staat, der beide Bereiche berücksichtigt.

Wo begegnet Ihnen der Sozialstaat in Ihrer Rolle als Familienunternehmer?

Ich versuche mich grundsätzlich erst mal dem Sozialstaat zu entziehen. Als Familienunternehmer lebe ich ungern von Fördergeldern.

Denn berechtigterweise, wenn man Fördergelder in Anspruch nimmt, hat man auch ein ganz anderes Berichtswesen. Ich bin lieber frei in meinen Entscheidungen, lieber mache ich eine Investition weniger, als dass ich mich in Abhängigkeit vom Staat bringe. Aber als Unternehmer bin ich natürlich täglich konfrontiert mit dem Sozialstaat mit allen Belangen.

Dem Unternehmer wird gern unterstellt, dass er eigentlich keinen großen Sozialstaat haben möchte, weil er den mitfinanzieren muss, weil damit Restriktionen einhergehen, viele Rechte für die Arbeitnehmenden. Wie stellt sich aus Ihrer Sicht dieses Spannungsfeld Arbeitgebende – Arbeitnehmende – Staat und die Diskussion um die Rolle der Unternehmen aktuell dar?

Natürlich befürworte auch ich: je weniger Staat, je mehr Markt, desto besser. Und ich meine, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich finden, um Lösungen für beide zu erarbeiten.

 

Jens Bullerjahn

1962 in Halle (Saale) geboren,
2022 in Eisleben verstorben

 

1979 – 1990 Elektromonteur, Elektroingenieur im Mansfelder Land

1990 Gemeinderat, Kreistag

1990 – 2016 Mitglied des Landtages Sachsen-Anhalt, Parlamentarischer Geschäftsführer, Vorsitzender der SPD-Fraktion

2006 – 2016 Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, Mitglied des Bundesrates, Mitglied der Föderalismuskomissionen II und III

2006 – 2007 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD

2012 – 2016 Vorsitzender der Tarifgemeinschaft der Länder

2016 – 2022 Berater für Wirtschaft und Finanzen

Klaus Papenburg

1970 in Großburgwedel geboren

1991 – 1993 Lehre zum Bankkaufmann

1993 – 1998 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Passau

1998 – 1999 Geschäftsführer diverser Unternehmen der GP Günter Papenburg AG

1999 – 2019 Mitglied im Aufsichtsrat der GP Günter Papenburg AG

seit 2016 Mitglied des Beirats der Firma STOCKMEIER Holding GmbH

seit 2019 Mitglied des Vorstands der GP Günter Papenburg AG

seit 2021 Mitglied des Aufsichtsrats der Salzgitter AG

Unsere Tarifpartnerschaft spielt dafür eine große Rolle. Einem Unternehmer, der viele Beschäftigte hat, ist schon bewusst, dass es seinen Arbeitnehmern gut gehen muss. Wenn es dem Unternehmen gut geht, dann geht es auch den Arbeitnehmern gut und eben auch dem Unternehmer. Das steht völlig außer Frage. Was ich aber überhaupt nicht verstehe und oft mit Politikern diskutiert habe, ist die Frage, warum möglicherweise die persönliche Einkommensteuer mich bevorteilt gegenüber der Unternehmensteuer. Denn wenn ich Geld rausnehme statt es im Unternehmen zu belassen, zahle ich zwar theoretisch darauf eine ähnliche Steuer, kann sie aber privat optimieren. Das heißt auch, so richtig hat das Unternehmen in unserer Gesellschaft keine Lobby, wenn überhaupt sind es die Arbeitgeber als Privatpersonen. Das ist aus meiner Sicht sicherlich ein Problem unserer Gesellschaft, dass wir nicht ausreichend die Unternehmen stärken. In Bezug auf das genannte Spannungsfeld betrachte ich es mit Sorge, angefangen bei der Finanzkrise, dass wir ein starkes Eingreifen des Staates haben. Dabei darf man nicht vergessen: Es war der Staat, der früher mit Basel II und Basel III den Kapitalmarkt erst geöffnet hat, sodass wir von einer kreditfinanzierten Unternehmerschaft hin zu kapitalmarktfinanzierten Unternehmen gekommen sind. Damit haben wir eigentlich den Mittelstand geschwächt. Dann kriegen wir eine Finanzkrise und regulieren den Finanzmarkt. Durch Corona haben wir in Teilen eine Gesundheitskrise gekriegt und haben jetzt eine Regulierung des Gesundheitsmarktes. Gleiches gilt für den Mindestlohn und andere Bereiche, wo wir zunehmend eine Regulierung des Arbeitsmarktes erhalten. Mit der zurückliegenden Bundestagswahl haben wir nun auch noch eine Regulierung des Energiemarktes bekommen.

Ich habe nicht das Gefühl, dass durch diese vielen staatlichen Regulierungen es heute den Menschen in Deutschland besser geht oder sie sich sicherer fühlen.

Ich stelle fest, dass die Bürger zunehmend verunsichert sind und dem Staat immer weniger die Lösung zutrauen, während der Staat immer mehr mit Regulierungen eingreift.


Aber drehen wir es mal um: Die Finanzkrise kam, weil einige Unternehmen nicht in der Lage waren, Marktmechanismen einzuhalten. Gezahlt und gerettet hat der Staat, sonst wären die Auswirkungen viel verheerender gewesen. Ein anderes Beispiel: Im Unterschied zu Skandinavien, wo der Staat sich weitgehend raushält, es aber ein hohes Lohnniveau gibt, werden in Deutschland zum Teil Löhne bezahlt, von denen die Menschen schlicht nicht leben können. Da kann man doch nicht sagen, dass der Markt von selbst funktioniert? 

Bleiben wir mal beim Kapitalmarkt. Aus meiner Sicht lebten früher die Sparkassen und Volksbanken, aber auch die vielen Geschäftsbanken, die es in Deutschland gab und die damals zu den führenden Kreditinstituten weltweit gehörten, maßgeblich vom Kreditgeschäft und dem Firmenkundengeschäft, während der Privatkunde sein Geld in der Bank angelegt hat. Wir haben aber in den 1990er Jahren diesen Markt mit gewissen Regularien dem Kapitalmarkt gegenüber geöffnet, und damit hatte man insbesondere die Landesbanken, Volksbanken und Sparkassen geschwächt. Wir haben das klassische Kreditgeschäft in Deutschland verlassen und den Investmentbereich, den Kapitalmarktbereich, Kapitalfinanzierung aufgebaut. 

Das war die erste große Schwächung für viele Mittelständler, die nicht gewohnt sind, sich über den Kapitelmarkt zu finanzieren. In Amerika haben wir ein ganz anderes System, da haben wir »Hire and Fire« auf dem Arbeitsmarkt, die Unternehmen sehen das gar nicht als problematisch an, wenn sie insolvent gehen. In Deutschland sagen heute die Start-upUnternehmen: Meine Chance ist eins zu zehn, dass ich überlebe. Dem entspricht aber nicht das deutsche Kartellrecht und auch nicht das Konkursrecht. Wir haben im Moment also zwei konkurrierende Systeme. Das sehen wir an dem Taxifahrer auf der einen Seite, der enorme Regularien zu erfüllen hat, und dann im Wettbewerb steht mit einem global agierenden Unternehmen wie Uber, das diesem Wettbewerbsrecht nicht unterliegt. Das trifft auf viele Bereiche zu: Wir haben die Öffnung des Marktes vorgenommen, die traditionellen Unternehmen unterliegen aber den alten Regularien. Jetzt versucht der Staat im Nachgang wieder über Kapitalmarktregeln nach zu regulieren. Dadurch habe ich immer mehr Verwerfungen in den Märkten. Ich glaube, dass dadurch die Mitte geschwächt wird.

Unser System, wie wir es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgebaut haben, das war ja die Stärkung des Mittelstandes – nirgendwo auf der Welt war der Mittelstand so stark wie in Deutschland. Heute ist zwar der Mittelstand derjenige, der die meisten Aufgaben finanziell schultert, auch durch soziales Engagement, aber profitieren tun die, die drunter liegen, die sich nicht einbringen und die geschützt werden sollen, was vielleicht auch verständlich ist, aber auch die, die drüber liegen und die im Grunde genommen gar nicht erfasst werden, weil sie sich im Kapitalmarkt bewegen.

Auf weite Sicht höhlt das unseren Sozialstaat aus. Wenn wir keinen starken Mittelstand haben, haben wir tendenziell einen unsozialeren Staat. Und deshalb muss es dort einen Wettbewerb geben zwischen Solidarität und Subsidiarität. Heute, um auf die aktuelle Situation zurückzukommen, versucht der Staat, den Bürger zu beruhigen, in dem er von Woche zu Woche einen neuen Schutzschirm aufwirft und sagt: »Leute, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.« Aber es kann nicht sein, dass der Staat für alles Regulierungen vornimmt, denn um das machen zu können, greift er immer mehr in die Prozesse ein. Irgendwann landen wir in einer Planwirtschaft. Das kann nicht sein.

Auf dem Arbeitgebertag vor wenigen Wochen war allerdings eine der zentralen Forderungen der Arbeitgeberverbände, solche Schutzschirme neben dem Privaten auch für Unternehmen zu entwickeln. Wie passt das zusammen?


Ja, das stimmt, aber ich teile diese Forderung so nicht. Mir geht es um etwas anderes: Wir haben durch staatliche Eingriffe einen extrem hohen Strompreis, der durch die Decke geht. Der findet zwar in einem Markt statt, aber der Markt wird durch die Bundesnetzagentur reguliert und die entscheidet, wer Strom einspeist. Wir brauchen nur aus dem Fenster zu gucken: welches Windrad dreht, welches nicht – das macht ja nicht das Windrad, sondern das macht die Bundesnetzagentur. Im Moment ist es politisch gewollt, einen hohen Strompreis zu haben, damit die Menschen mehr Energie einsparen, um einen geringen CO2-Ausstoß zu bekommen. Jetzt haben wir nämlich Klimapolitik, die wir verbinden wollen mit Sozialpolitik und Energiepolitik. Wenn wir hingegen die Gaskraftwerke aus dem Merit-Order-Prinzip rausnehmen würden, hätten wir gar nicht so einen hohen Strompreis – ich weiß auch gar nicht, ob wir die zwingend technisch laufen lassen müssen. Und vom Prinzip her hat auch hier erst mal der Staat in den Gasmarkt eingegriffen, indem er den Markt nicht so zugelassen hat, wie er sich hätte entwickeln können. Jedenfalls haben wir aus meiner Sicht diese hohen Energiekosten, weil der Staat eingegriffen hat, und deshalb haben wir auch eine hohe Inflation, die wiederum zulasten von Unternehmen und Bürgern geht. Dafür nun einen Schutzschirm aufzubauen, um das, was ich vorher falsch gemacht habe, zu kompensieren, halte ich für einen Fehler. Punktuell ist das sicherlich sinnvoll, aber nicht für alles.

Eine Studie des DIW hat kürzlich belegt, dass seit den 1990er Jahren die Haushalte mit geringen Einkommen in Deutschland kaum reale Lohnsteigerungen erfahren haben. Das allerdings ist kein Thema des Staates – Sie haben vorhin auf die Tarifautonomie hingewiesen. Aus dieser Studie muss man aber doch schließen, dass große Teile der Wirtschaft große Teile der Beschäftigten nicht am Wachstum haben teil lassen. Steckt darin nicht großer sozialer Sprengstoff?

Richtig ist, dass die realen Einkommen in Teilbereichen nicht gestiegen sind. Das ist unstrittig. Unabhängig davon haben wir aber zusätzliche Kosten in den Unternehmen, die staatlich verursacht sind.

Hätten die Unternehmen also mehr Löhne zahlen können? Ich würde sagen: Bestimmte Unternehmen eventuell schon. Der Staat hat aber grundsätzlich den Faktor Arbeit teurer gemacht.

Es ist zwar richtig, dass der Reallohn teilweise für die Mitarbeitenden nicht gestiegen ist, aber wir haben in vielen Bereichen die Flexibilität des Arbeitsplatzes auch nicht gerade erhöht. Wir haben viele Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz verbessert, die vielleicht auch notwendig waren. Aber der Faktor Arbeit ist grundsätzlich in Deutschland sehr viel teurer geworden. Das heißt, der Arbeitnehmer hat teilweise real weniger Entlohnung gehabt, der Faktor Arbeit hat sich aber im gleichen Zeitraum als Kostenposition unter Garantie verdoppelt.

Aber auf Dauer kann es doch nicht gut gehen, dass nach den Krisen das obere Zehntel immer reicher wird, die zwei unteren Zehntel immer mehr abgehängt werden und die breite Mitte relativ auf der Stelle steht. Ist das letztlich nicht eine Verteilungsfrage zwischen denen, die Arbeit geben, und denen, die Arbeit nehmen?

Ganz sicher ist das ein Problem zwischen den Arbeitenden und den Arbeitgebenden. Ich stimme auch zu, dass es den oberen zehn Prozent in den vergangenen Jahren immer besser gegangen ist. Ich würde aber zutiefst widersprechen, dass es den unteren zehn Prozent immer schlechter gegangen ist. Ich würde behaupten, dass es der Mitte im Verhältnis immer schlechter geht. Die Menschen, die früher Hartz IV und Wohngeld bezogen haben – jetzt kommt das Bürgergeld –, sind überhaupt nicht betroffen von den erhöhten Energiekosten. Das übernimmt doch alles der Staat. Unsere Mitarbeiter, die sind massiv betroffen, die haben aktuell Steigerungen von bis zu 600 Prozent in ihren Wohnnebenkosten und können das überhaupt nicht

auffangen. Die kommen jetzt zu mir und sagen: »Arbeit lohnt sich für mich nicht mehr, ich möchte in Frührente gehen. Wenn ich arbeitslos bin, kommt für mich der Staat auf.« Das ist aus meiner Sicht ein Hauptproblem beim Thema Bürgergeld, dass eben Mitarbeiter, die zwei Jahre vor dem Renteneintrittsalter stehen, zu mir kommen und schon gehen möchten. Das Bürgergeld ist sicherlich ein gut gemeintes Gesetz, wirkt aber völlig kontraproduktiv, weil die Leute sagen: »Was Besseres kann mir doch gar nicht passieren, wenn ich jetzt schon arbeitslos werde, dann komme ich vielleicht einen Tag die Woche und verdiene mir noch mal 400, 500 Euro im Monat dazu, dann stehe ich besser da mit dem Bürgergeld, als wenn ich die ganze Woche arbeite.« Also, da ist es jedenfalls nicht einfach nur getan mit höheren Löhnen. 

Das Problem ist, dass aus meiner Sicht die Mittelschicht im Moment den gesamten Sozialstaat abfängt. Das kann eigentlich nicht sein, sondern es muss einen Anreiz geben, die untere Bevölkerungsschicht in den Arbeitsprozess zu kriegen.

Da bin ich ganz eng bei Gerhard Schröder mit den Hartz-IV-Geboten. Aber natürlich hat die obere Schicht einen Beitrag zu leisten und zwar nicht zu knapp. Dort sind in Teilbereichen unmoralische Gewinne erwirtschaftet worden.

Jetzt haben wir aber zum ersten Mal den Effekt, dass es in Deutschland mehr offene Stellen gibt als Arbeitslose. Wie soll man das auflösen?

Das eine ist, wir müssen Mitarbeiter qualifizieren

Aber auch hier wirkt das Bürgergeld kontraproduktiv, wenn man sagt: Es ist dem Bürger nicht zuzumuten, in den nächsten zwei Jahren sein Vermögen offenzulegen, wenn er arbeitslos ist. Aus meiner Sicht muss ein Anreiz geschaffen werden, dass er Arbeit aufnimmt.

Wir haben ganz oft die Erfahrung gemacht mit Langzeitarbeitslosen beispielsweise, die bei uns Arbeit aufnehmen, dass sie nach drei Tagen die Arbeit wieder niederlegen, weil das, was ihre Kollegen machen, für sie nicht mehr zumutbar ist.

Das ist kein Klischee?

Die Erfahrung machen wir regelmäßig. Ein anderes Thema ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die hat natürlich ihre Berechtigung, und die große Masse unserer Mitarbeiter ist fleißig – über die brauchen wir gar nicht reden. Aber wir haben auch nicht wenige Mitarbeiter, die regelmäßig montags und freitags krank sind. Da muss man doch mal über die ersten ein, zwei Tage anders berichten können. Und es kann doch nicht sein, wenn, wie der Europäische Gerichtshof vor zwei Wochen entschieden hat, bei mir jemand ein Jahr fehlt gesundheitlich und die Arbeit dann wieder antritt, er dann noch vollen Urlaubsanspruch hat. Genau das macht den Faktor Arbeit teuer bei uns, dass wir irgendwo zehn Prozent Beschäftigte mitschleppen, die aus welchen Gründen auch immer nichts zum Unternehmenserfolg beitragen, die anderen Kollegen dieses aber ausgleichen müssen. Da sind wir wieder bei dem Thema: Ist es denn 

solidarisch, wenn die Kollegen die Schwächeren ausgleichen? Da meine ich auch Arbeitszeiten etc. Wie soll das gehen? Deshalb reicht es nicht, einfach nur zu sagen: Na, dann stellt doch mehr Leute ein. Die Kombination ist dennoch richtig, dass derjenige, der arbeitet, auch gutes Geld verdienen soll, und derjenige, der arbeiten kann, befähigt werden muss durch Qualifizierung, in einen Arbeitsprozess zurückzukommen.

Das skandinavische System, also in Ländern mit deutlich weniger Einwohnerinnen und Einwohnern, macht einen großen Steuerschnitt, einmal eine hohe Einkommensteuer. Davon wird die Bildung bezahlt, teilweise Rente, teilweise Sozialstaat. Gleichzeitig gibt es die klare Forderung des Staats: Wer Hilfe will, muss sie sich erarbeiten. Die skandinavischen Länder sind in dieser Hinsicht viel restriktiver. Wären Sie bereit, eine solche Umverteilung, wenn sie am Ende auch zu den Kritikpunkten kommt, die Sie hier ansprechen, mitzugehen?

Die Skandinavier haben einen weiteren Vorteil, glaube ich: Sie sind sehr ländlich geprägt und haben sehr große Rohstoffvorkommen. Sie kommen also auch über solche Wege zu Staatseinnahmen, die in Deutschland so nicht umsetzbar sind. Ich glaube schon, wenn man über das Thema Spitzensteuersatz zum Beispiel spricht im Rahmen der Einkommensteuer, dass der natürlich höher sein kann, aber nicht an der Position, wo er heute ist. Jemand, der dann wieder 300.000, 400.000 Euro mehr verdient – warum soll der dann nicht wieder anteilig mehr Steuern zahlen? Das geht sicherlich. Aber diejenigen, die gerade den Spitzensteuersatz erreichen, sind heute diejenigen, die am meisten zum sozialen Frieden beitragen. Ich glaube, diese Menschen darf man auf keinen Fall mehr belasten. Und zu meinen, dass einer, der heute zwischen 100.000 und 150.000 Euro brutto verdient, ein reicher Mensch ist – das würde ich mal infrage stellen, insbesondere wenn man in die Ballungsräume schaut, wo Häuser mit Garten unter 1 Millionen Euro nicht zu kaufen sind. Aber warum sollte nicht prozentual einer, der ein Einkommen jenseits von ein paar hunderttausend Euro hat, nicht einen höheren Einkommensteuersatz zahlen. Aus meiner Sicht kann der das natürlich.

Deshalb verstehe ich nicht, wie schon gesagt, warum ich nicht dafür belohnt werde, wenn ich Geld im Unternehmen belasse, statt es rauszunehmen. Wenn wir Unternehmen stärken, dann muss das unterstützt werden.

Wenn ich hingegen mein Privatvermögen maximieren will, müssen da Grenzen gesetzt werden – nicht absolut, aber relativ.

Warum gibt es in Deutschland keine öffentliche Debatte in diesem Sinne?

Ich glaube, sie ist im Moment nicht gewollt. Wir sind auch medial meiner Meinung nach nicht ganz optimal aufgestellt. Ich glaube auch, dass dem einen oder anderen Medienvertreter in den Talkshows diese Probleme, die unten an der Basis sind, nicht bewusst sind. Der Unterschied für mich als Unternehmer ist, dass ich schon sehr intensiv mit unseren Mitarbeitern rede und die mir ihre Sorgen berichten. Das ist der Vorteil, wenn man Unternehmer ist und nicht nur Arbeitgeber. Im Austausch mit Mitarbeitern bekommt man schon die aktuellen Probleme sehr gut mit.

Rente, Pflege, Gesundheit – der Kern unseres Sozialstaats wird noch finanziert wie früher: Arbeitgeberanteil, Arbeitnehmeranteil, pro Kopf laufende Kosten werden gedeckt aus dem Aufkommen. Seit Langem wissen wir, dass der Anteil der Jüngeren gegenüber denen, die Ansprüche haben, zurückgeht. Jetzt gibt es eine Forderung vom Arbeitgeberpräsidenten, der sagt: Die Solidarkosten belasten zu sehr die Arbeit. Gibt es eine Debatte in Unternehmerkreisen über die sich verändernden und anbahnenden Belastungen aus dem eigentlichen Sozialstaat? Die Verschiebungen der Größenordnungen sind doch gewaltig – früher im Verhältnis vier Arbeitnehmende zu einem Rentner, heute im Verhältnis zwei zu eins.

Auch da haben die Hartz-IV-Reformen von Gerhard Schröder angesetzt, dass erst mal das Renteneintrittsalter nach hinten geschoben wurde. Auf der einen Seite haben wir eine steigende Lebenserwartung, auf der anderen Seite haben wir in vielen Bereichen eine Verkürzung der Arbeitszeiten. Über das Thema Lebensarbeitszeit wird ja oft diskutiert. Ich würde noch einen Schritt weitergehen und behaupten, im Mittel der Bevölkerung treten die Menschen immer später überhaupt erst in die Arbeitswelt 

ein. Wir hatten Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre 20 oder 25 Prozent in den Flächenländern, die Abitur gemacht haben. Heute liegen wir bei über 50 Prozent. Früher sind die meisten Schulabgänger in die Lehre gegangen und haben schon mit dem Lehrgeldeinkommen angefangen, in die Sozialkassen einzuzahlen. Das war oft mit 16 Jahren. Heute machen viele nach dem Abitur erst mal ein Sabbatical, dann machen sie ein Studium und steigen erst mit 27 Jahren ins Arbeitsleben ein – in der Zeit, in der sie eigentlich am produktivsten sein könnten. Das muss uns auch bewusst sein, wenn wir diskutieren, ob es richtig ist, mit 67 oder mit 65 in Rente zu gehen. Dann müssen wir auch fragen, ob es richtig ist, dass viele erst mit 27 anfangen einzuzahlen. Das gilt natürlich zu einer Zeit, wo wir deutlich mehr Arbeitskräfte benötigen, gerade junge Arbeitskräfte. Aber da müssen sich auch die Unternehmen wieder die Frage stellen: Wie binde ich den Arbeitnehmer im Unternehmen? Indem ich ihm über das Arbeitsleben hinaus Rente zusichere oder eine Wohnung stelle? In den 1970er und 1980er Jahren haben die Arbeitgeber doch auch vielmehr gemacht, weil es einfach nicht ausreichend Arbeitskräfte in Deutschland gab. Ich denke, wir wurden da als Arbeitgeber auch ein bisschen verwöhnt, uns nur noch auf den gesetzlichen Sozialbereich zu reduzieren.

Das können doch aber nur große Arbeitgeber leisten?

Wieso? Viele der kleinen Handwerksbetriebe sind doch vererbt, und viele haben ein gewisses Immobilienvermögen. Warum soll ich nicht einem Arbeitnehmer auch eine günstige Wohnung stellen können? Also, es gibt auch andere Themen, die über Gesundheit und Rente hinausgehen, wo ich den Arbeitnehmer noch unterstützen kann. Die Themen werden wiederkommen – da bin ich fest von überzeugt. Das geht alleine damit schon los, dass wir heute wieder Arbeitskräfte im Ausland suchen und denen notgedrungen Wohnraum zur Verfügung stellen. Auf der anderen Seite ist mein Eindruck, wenn wir jetzt noch mal auf das Thema Rente, Krankenversicherung zurückkommen, dass wir in den Verwaltungen dieser Kassen einen sehr hohen bürokratischen Aufwand haben. Das Geld steckt nicht in den Krankenhäusern, sondern eher in der Verwaltung dieser Gelder. Auch dort wäre es sicherlich sinnvoll, Regulierungen abzubauen und diesen Bereich zu entschlacken, dann würden auch Mittel freigesetzt. Mag sein, dass am Ende trotzdem ein Teilbereich durch Steuern querfinanziert werden muss, aber sicherlich nicht in dem Ausmaß, wie im Moment prognostiziert wird.

Im europäischen Vergleich hat Deutschland die höchsten Kosten für den Gesundheitsbereich. Wir haben die meisten Krankenhäuser, die meisten Ärztinnen und Ärzte, die meiste Technik. Trotzdem schimpfen wir alle. Hat das etwas mit dem Anspruch zu tun und der Erwartungshaltung der Menschen oder dem Versprechen der Politik?

Ich glaube, es ist zwar gut gewollt, aber wir haben zu viele bürokratische Hemmnisse, die einfach extrem viel Geld kosten. Zu viele Menschen lassen sich sicherlich auch irgendwas verschreiben, wo wir im Grunde genommen früher eine Erkältung einfach auskuriert haben. Dann fehlt es aber in den Gesundheitsbereichen, die es wirklich notwendig haben. Meine Wahrnehmung ist, wenn ich zu einem Arzt komme und sehe, was da an Bürokratie erst mal alles auszufüllen ist – das kann gar nicht effizient sein. Das Komische ist, es kommt doch scheinbar gar nicht bei den Ärzten an. Früher als ich Kind war, hatte ich das Gefühl, die Ärzte im Ort waren die vermögendsten Menschen. Das mag auch punktuell noch so sein, aber eher sind die in der Mittelschicht angekommen. Insofern muss das Geld doch woanders bleiben, was da in der Größenordnung durchgebracht wird. Aber ich verstehe es nicht, ehrlich gesagt.


Das meiste bleibt im Krankenhaus. Wir haben sehr viele OPs, sehr viele standardisierte technische Verfahren, Doppelungen, Fachärztinnen und -ärzte, Krankenhäuser – was sich andere Länder nie leisten und leisten können. Um noch mal auf das Subsidiaritätsprinzip zurückzukommen, an das Sie zu Beginn erinnert haben: Kann es sein, dass wir inzwischen in unserem Land eine Anspruchshaltung haben, die uns dieses Prinzip hat vergessen lassen?

Definitiv, weil medial begleitet und politisch signalisert wird:

Im Notfall muss der Staat helfen – in allen Bereichen. Das ist zwar für die Betroffenen richtig und wichtig, aber für die Gemeinheit infrage zu stellen.

Ich selber war Betroffener der Flut hier an der Saale. Da habe ich das nur am Rande verfolgt, was öffentlich gemacht wurde. Jetzt bei der Flut im Ahrtal hat man mitbekommen, in welchem Umfang auch privat Menschen staatliche Hilfe erhalten haben, egal ob sie versichert oder nicht versichert waren. Es wurde die Botschaft herausgegeben »Wir lassen keinen allein«. Das ist zwar gut, aber der, der sich früher zu sehr eingeschränkt hat, dem wird eigentlich signalisiert: Du bist doch blöd, wenn du das machst, denn für den Notfall kommt der Staat im gleichen Umfang auf. Das gilt für Gesundheit, für Rente – wenn ich heute, falls ich finanziell dazu in der Lage bin, in Teilbereichen sparsam bin für mein Alter, dann muss das doch gewürdigt werden. Nach meinem Gerechtigkeitsempfinden sollte nicht derjenige, der sparsam war, gleichgesetzt werden mit demjenigen, der gut gelebt hat.

Das heißt, wir haben heute so etwas wie eine Vollkasko-Mentalität? Was müsste denn passieren, damit wir da einen Mentalitätswechsel hinbekommen?

Es muss sicherlich erst mal eine offene Diskussion geben. Etwas übertrieben gesagt: Wenn ich heute in ein Parkhaus reinfahre, dann haben die ersten Parkplätze Elektrobuchsen, die zweiten sind für Frauen, dann sind welche für Menschen mit Behinderungen, dann welche für Familien – und so gibt es sechs, sieben, acht Kategorien, für die überall Parkplätze sind, nur für die Masse, die da aber parkt, reduziert sich die Anzahl. Natürlich hat da jeder Einzelne seine Berechtigung, nur der Normalbürger wird nicht betrachtet. Wenn ich vorhin von der Mittelschicht gesprochen habe, die eigentlich den Staat aufrechterhält, dann ist die eben in vielen Bereichen nicht adäquat vertreten. Wenn ich mir heute einen Verwaltungsrat angucke, der ist im Wesentlichen durch Minderheiteninteressen vertreten und nicht durch Repräsentanten, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen.

Das führt aber dazu, dass irgendwann, wie unser Bundespräsident gesagt hat, die Mitte unserer Gesellschaft, die über Freiwilligenarbeit, durch soziales Engagement unseren Staat zusammenhält, dass dieser Kit irgendwann aufgebrochen wird.

Haben wir in Deutschland mittlerweile ein Lebensgefühl, wo man nicht mehr unterscheiden kann, wer braucht Hilfe und wer kommt ohne Hilfe aus? Fehlt es in der Politik an Stimmen, die deutlich sagen: »Halt, jetzt denken wir erst mal nach. Denn das, was wir ausgeben, bekommen wir von euch.«

Daraus ergibt sich eben dieses Bild: Für alles schaffen wir Schutzschirme, anstatt an die Probleme zu kommen. Warum müssen wir so viel umverteilen? Warum muss der Staat immer mehr eingreifen? Wie schaffen wir es, dass die Menschen in der Lage sind, sich selber zu helfen? Müssen wir das infrage stellen, wofür uns die ganze Welt beneidet hat – den Bildungsweg, den wir Jahrzehnte hatten, den Mittelstand, den wir hatten, die Fachkräfte, die wir in Deutschland hatten, auch unseren Sozialstaat, den wir ja gehabt haben, die Tarifpartnerschaften, die wir hatten? Das stellen wir alles infrage, und im Grunde genommen gehen wir immer mehr in extreme Positionen. Wenn dann diese Extreme nicht richtig funktionieren, soll der Staat das ausgleichen. Ich denke, es wäre viel interessanter, wir suchten wieder den Konsens in der 

Gesellschaft, den Kompromiss. Klar, habe ich andere Meinungen, andere Vorstellungen wie meine Arbeitnehmer – wäre auch schlimm, wenn wir die gleichen hätten, um zum unternehmerischen Erfolg zu kommen. Aber das Entscheidende ist doch, dass wir dann einen Kompromiss finden. Und genauso ist es im Markt, wir reden von Kompromissen und nicht von einem Gegeneinander. 

Die Lobbyisten wollen hingegen oft gar keinen Kompromiss, sondern die stehen auf ihrem Standpunkt: Ich bewege mich nicht. Das gilt auch für die extremen Parteien, die heute zunehmend an Bedeutung gewinnen, weil wir nicht in der Mitte den Kompromiss, sondern extreme Entscheidungen suchen. Ich würde eher schauen, was unseren Sozialstaat stark gemacht hat, wie wir dort wieder hinkommen.

Wie kriegen wir unsere Menschen mitgenommen in einer globalen Welt? Da fehlt es im Moment viel an Kommunikation.

Dieser fehlenden Kommunikation wollen wir mit unserem Buch was entgegensetzen, auch um die angesprochene Arbeit am Kompromiss voranzubringen. Lieber Klaus Papenburg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.