Respekt und Zusammenhalt – Herausforderungen des Sozialstaats in unserer Zeit

 

Ein Wesenskern der sozialen Demokratie ist die Idee der Solidarität: dass freie Bürgerinnen und Bürger füreinander einstehen. Darum ist mir gesellschaftlicher Zusammenhalt so wichtig. Ich bin überzeugt: Ohne Solidarität und ein geteiltes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit kann es auf die Dauer keine sozial und demokratisch verfasste Gesellschaft von Freien und Gleichen geben. Die Stärke – und ausdrücklich auch die ökonomische Stärke – unserer Gesellschaft erwächst aus ihrem Zusammenhalt. Umgekehrt hat der gesellschaftliche Zusammenhalt soziale und wirtschaftliche Voraussetzungen, die wir immer wieder erneuern müssen. Diese ständige Erneuerung des Zusammenhalts gelingt nur mit einer starken Zivilgesellschaft. Aber sie hängt zugleich maßgeblich ab von staatlicher – gerade auch sozialstaatlicher – Politik, die für Sicherheit im Wandel sorgt.

Zusammenhalt – eine unverzichtbare Voraussetzung

Über die vielfältigen Faktoren, die unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren unter Stress gesetzt und zu neuen Spaltungen beigetragen haben, gibt es große Bestände von Literatur. Oft geht es angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit am Ende um den Widerstreit zwischen »Offenheit« und »Schließung«, »Bewegung« und »Beharrung«. Vom Gegensatz zwischen »Kosmopoliten« und »Kommunitaristen« (Wolfgang Merkel) ist die Rede oder von der Spannung zwischen den »Anywheres« und den »Somewheres« (David Goodhart). Die einen sehen dem Neuen und der Veränderung mit Zuversicht entgegen: »Yes We Can!« Die anderen fürchten den Wandel und wollen festhalten, was sie haben – oder mutmaßlich einmal hatten. Parolen wie »Take Back Control!«, »Make America Great Again!« oder »Holt euch euer Land zurück!« knüpfen an diese Stimmung an. Folgt man ergänzend der Diagnose des Soziologen Andreas Reckwitz, dann ist in unserer Gesellschaft zugleich das »Allgemeine«, das »Universelle« und von allen Geteilte auf dem Rückzug. Deutlich höher im Kurs stehe heute das »Besondere« und das »Einzigartige«. Eine solche Gesellschaft, von Reckwitz als »Gesellschaft der Singularitäten« beschrieben, stößt als Gemeinwesen irgendwann an Grenzen. Dabei heißt Zusammenhalt natürlich nicht, dass wir alle gleich leben oder einer Meinung sein müssen. Es gibt nun einmal unterschiedliche Lebensstile und Herkünfte, Werte und Interessen.

Aber wir müssen aufpassen, dass wir uns als politisches Gemeinwesen ein gemeinsames Verständnis darüber bewahren, wie wir Konflikte miteinander austragen – und vor allem: wie wir zu Konsens und Kompromissen gelangen. Das ist der Kern der Demokratie.

Deshalb sind Tendenzen des Auseinanderfallens unserer westlichen Gesellschaften in verschiedene Lager und Gruppen, die einander verständnislos begegnen oder dem Staat nicht mehr über den Weg trauen, das genaue Gegenteil dessen, was wir dringend benötigen: Wir brauchen heute mehr soziales Vertrauen und mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt – nicht weniger! Denn Vertrauen und Zusammenhalt sind nicht nur Selbstzweck, nicht nur sozialromantische Ideen aus dem vorigen Jahrhundert. Zusammenhalt – also ein Mindestmaß an geteilter Wirklichkeitswahrnehmung, an innergesellschaftlichem Miteinander und Solidarität –, bleibt auch die Voraussetzung dafür, dass unsere Gesellschaft Herausforderungen bewältigen kann.

Olaf Scholz
Bundeskanzler

1958 in Osnabrück geboren

 

1978 – 1985 Studium der Rechtswissenschaften

1998 – 2001 Mitglied des Deutschen Bundestages

2000 – 2004 und 2009 – 2018 Landesvorsitzender der SPD Hamburg

2001 – 2001 Innensenator von Hamburg

2002 – 2011 Mitglied des Deutschen Bundestages

2005 – 2007 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion

2007 – 2009 Bundesminister für Arbeit und Soziales

2009 – 2011 Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion

2009 – 2019 Stellvertretender Parteivorsitzender der SPD

2011 – 2018 Erster Bürgermeister von Hamburg

2018 – 2021 Bundesfinanzminister und Vizekanzler

Eine Gesellschaft des Respekts

Und große Herausforderungen haben wir in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich zu bewältigen. Die Covid-Pandemie und Russlands imperialer Angriffskrieg gegen die Ukraine haben die Welt erschüttert und verändert. Und fast alle erkennen inzwischen: Die Klimakrise ist die große bedrohliche Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Das verändert die Art, wie wir leben, arbeiten und wirtschaften: entweder indem wir jetzt den nötigen Wandel eigenständig und selbstbestimmt gestalten – oder indem uns die unbewältigenden Folgen der Krise später noch viel größere Veränderungen aufzwingen. Vorzuziehen ist dabei zweifellos die erste Alternative. Und ich bin überzeugt: Diese Transformation können wir hinbekommen. Aber wir werden sie nur hinbekommen, wenn wir dabei als Gesellschaft nicht mit uns selbst über Kreuz liegen. Und nur, wenn immer klar ist, dass der Umbau auch denjenigen zugutekommt und ein gutes, sicheres Leben verspricht, die sich heute noch vor den anstehenden Veränderungen fürchten.

Meine eigene Leitidee angesichts dieser Lage ist eine »Gesellschaft des Respekts«.

Respekt aller Bürgerinnen und Bürger voreinander: Das ist der gemeinsame Nenner, auf den sich eine so vielfältige Gesellschaft wie unsere verständigen muss – und zwar gerade deshalb, weil sie so vielfältig ist. Respekt üben und respektiert werden – das bedeutet, dass wir uns bei aller Verschiedenheit gegenseitig als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen.

Der Begriff steht in enger Verbindung zu Begriffen wie Anerkennung und Achtung, Würde und Anstand. Respekt bedeutet, dass niemand auf andere herabschaut, weil er oder sie sich selbst für stärker hält, für gebildeter, für reicher oder für besonders »woke«. Damit allein wäre schon viel gewonnen. Denn viele der Verletzungen, Kränkungen und Ressentiments in unserer Gesellschaft rühren daher, dass sich Menschen nicht hinreichend wahrgenommen fühlen. Sie fühlen sich nicht anerkannt, nicht gesehen und gewürdigt – untereinander nicht und auch nicht in ihrer Eigenschaft als Bürgerinnen und Bürger im Verhältnis zum Staat.

Das meritokratische Prinzip überwinden

Schon vor längerer Zeit hat mich Michael Youngs Buch »The Rise of the Meritocracy« beschäftigt. Young war ein britischer Soziologe, nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Vordenker der Labour Party. Seine Kategorie der »Meritokratie« verstand er nicht als Idealvorstellung, sondern im Gegenteil als Dystopie und Warnung: Angehörige der meritokratischen Oberschicht seien zuweilen »so beeindruckt von ihrer eigenen Wichtigkeit, dass sie das Mitgefühl für die von ihnen regierten Leute verlieren«. In jüngerer Zeit hat der amerikanische Philosoph Michael Sandel den Begriff wieder aufgegriffen. Auch er kritisiert die »Tyranny of Merit«, die meritokratische Denkweise, einen privilegierten gesellschaftlichen Status allein auf eigene Leistung zurückzuführen – was es dann den Statusträgerinnen und -trägern legitim erscheinen lässt, sich als jemand Besseres und Höheres zu fühlen. Sandel argumentiert dagegen, jeder und jede Einzelne habe den Anspruch auf »Beitragsgerechtigkeit« – nämlich darauf, einen eigenen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl leisten zu können und mit diesem Beitrag wahrgenommen und anerkannt zu werden. Es geht um die Würde der Arbeit – jeder Arbeit.

Ich finde diesen Gedanken richtig. Aus meiner Sicht ist die Überbetonung des meritokratischen Prinzips zwar nicht die einzige, wohl aber eine wesentliche Ursache für die angesprochenen Konflikte, für schwindendes soziales Vertrauen und die Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Kassiererin im Supermarkt, der Krankenpfleger, die Reinigungskraft, der Paketbote, die Zugbegleiterin im Regionalexpress – jede und jeder Einzelne von ihnen leistet einen eigenen unverzichtbaren Beitrag zu unserem Gemeinwesen. Administrative, akademische, kreative oder künstlerische Tätigkeiten sind keine besseren oder würdigeren Tätigkeiten – sie sind andere Tätigkeiten. Und auch sie verdienen selbstverständlich Respekt.

Aktive und präventive Politik ist gefordert – gerade vom Sozialstaat

Mehr Empathie, mehr Wohlwollen, mehr Zuwendung, mehr Augenhöhe – und weniger Herablassung. Das ist also das eine, wenn wir eine Gesellschaft des Respekts anstreben. Das andere ist eine energische Politik des Respekts. Hier kommt der (Sozial-)Staat ins Spiel. Denn natürlich darf sich Respekt nicht im Atmosphärischen, im Symbolischen und Habituellen erschöpfen. Der Applaus für Krankenpflegerinnen oder das Trinkgeld für den Paketboten – das ist gut und richtig. Aber das reicht nicht. Wir brauchen auch eine aktive und präventive staatliche Politik, die Respekt ermöglicht, bewahrt und immer wieder erneuert. Meine Wahrnehmung ist, dass die Auseinandersetzung um Respekt und Anerkennung heute allzu oft in identitätspolitischen Kategorien geführt wird.

Richtig ist allerdings: Zu jeder Politik des Respekts muss es gehören, dass sie sich konsequent gegen Rassismus, Sexismus und jede andere Form der Diskriminierung wendet. Viele staatliche und alltägliche Diskriminierungen haben wir in Deutschland bereits überwunden – aber bei Weitem nicht alle.

Hier dürfen wir nicht nachlassen, denn auch vom weiteren Fortschritt in dieser Frage hängt der Zusammenhalt unserer Gesellschaft ab. Gerade im Kontext unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit nichtdeutschen Wurzeln ist mir der Begriff des Respekts besonders wichtig. Millionen von ihnen sind hier geboren. Viele Familien leben schon seit Generationen in Deutschland. Ihre Eltern und Großeltern haben massiv zum Aufbau und Wohlstand unseres Landes beigetragen. Wir sprechen hier von fast einem Viertel unserer Bevölkerung. Und sie alle haben Anspruch auf volle Beteiligung am gesellschaftlichen Leben in unserem Land. Die in Hamburg geborene Tochter türkischer Eltern, der in Essen schuftende Bauarbeiter aus Rumänien, die in Berlin lebende polnische Altenpflegerin, der pakistanische Tech-Ingenieur in Dresden – ihnen allen gebührt eine gute Zukunft in unserem Land. Und zwar nicht als separate Gruppe, sondern als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft, als Bürgerinnen und Bürger. Dass Deutschland für viele Menschen, die in Zukunft hierherkommen wollen, attraktiv ist, darauf sollten wir stolz sein. In diesem Sinn habe ich unser Land in einem Buch einmal als »Hoffnungsland« beschrieben. Wir sind ein Einwanderungsland, aber wir müssen ein noch besseres Integrationsland werden. Dafür fühle ich mich verantwortlich. Und alle, die sich hier bei uns in Deutschland für ihre persönliche Zukunft anstrengen, haben mich an ihrer Seite.

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Kluge Politik des Respekts trägt also der inneren Vielfalt unserer Gesellschaft Rechnung – und organisiert zugleich ihren Zusammenhalt.

Richtig ist allerdings: Zu jeder Politik des Respekts muss es gehören, dass sie sich konsequent gegen Rassismus, Sexismus und jede andere Form der Diskriminierung wendet. Viele staatliche und alltägliche Diskriminierungen haben wir in Deutschland bereits überwunden – aber bei Weitem nicht alle.

Alle diese über viele Jahre gewachsenen Missstände gibt es in unserem Land tatsächlich. Sie untergraben Zuversicht und Vertrauen. In ihnen kommt für die Betroffenen fehlender Respekt vor ihrer Leistung und ihrer Anstrengung zum Ausdruck. Missstände wie diese sind deshalb Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land.

Soziales Vertrauen und sozialen Zusammenhalt organisieren

Diese konkreten Dinge mit einer zupackenden Politik des Respekts anzugehen, ist auch wichtig, um das soziale Vertrauen, das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen in Deutschland zu stärken. Hinzukommen muss, dass wir als Staat aus den angesprochenen Krisen der jüngeren Zeit lernen. Manche nennen das »Resilienz«. Die Bürgerinnen und Bürger, gerade solche, die besonders schutzbedürftig sind, erwarten von ihrem Staat, dass er sie so gut wie möglich vor Krisen und Krisenfolgen bewahrt. Wo dem Staat dies noch nicht gut genug gelingt, da muss er für die Zukunft lernen. Das ist eine der großen politischen Aufgaben unserer Zeit.

Dazu gehört auch, dass wir das, was wir Globalisierung nennen, so angehen, dass sie unsere Gesellschaft nicht weiter nach den oben angesprochenen Mustern spaltet. Wollen wir dem zunehmenden Trend der Renationalisierung etwas entgegensetzen, darf nicht der Eindruck entstehen, die Globalisierung sei der demokratischen Kontrolle entglitten.

Darum ist es mir so wichtig, konkrete politische Initiativen umzusetzen, die deutlich machen: Wir können eine gerechtere Globalisierung durchsetzen.

So haben wir bereits mit dem Lieferkettengesetz den Welthandel etwas fairer gemacht. Und das Projekt einer internationalen Mindestbesteuerung ist mir nicht nur aus fiskalischen Gründen ein wichtiges Anliegen, sondern gerade auch deshalb, weil es die Gerechtigkeit und das Vertrauen in Demokratie stärkt.

Um es zum Schluss noch einmal klar zu formulieren: Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt im 21. Jahrhundert ist keine Frage, der wir uns erst dann zuwenden müssen, wenn wir irgendwann alle anderen großen Probleme gelöst haben. Im Gegenteil: Wir werden die großen Aufgaben unserer Zeit überhaupt nur dann erfolgreich bewältigen, wenn uns unterwegs nicht der Zusammenhalt unserer Gesellschaft abhandenkommt.

Soziales Vertrauen und sozialen Zusammenhalt gerade unter den Bedingungen historisch beispielloser gesellschaftlicher Vielfalt zu organisieren – das ist die Voraussetzung schlechthin dafür, dass Deutschland in diesem Jahrhundert eine gute Zukunft haben wird.

Gelingen kann das nur mit einem wirksamen Sozialstaat und einer Politik des Respekts, die immer alle Bürgerinnen und Bürger im Blick behält. Denn nur wenn alle in Deutschland klarkommen können, werden wir erfolgreich sein.