Bildungsföderalismus
Wirft man einen durch parteipolitische Interessen nicht verstellten Blick auf die Geschichte der Sozialdemokratie, beanspruchte sie historisch die eigentliche Leistungspartei zu sein: Nicht sozial, ökonomisch oder kulturell ererbte Privilegien, sondern allein individuelle Leistungsbereitschaft und Begabung sollten klassen- und standesunabhängig über die Lebensperspektiven jedes Einzelnen entscheiden. Die Demokratisierung der Bildung erwies sich damit zugleich als das langfristig wichtigste und wirksamste Mittel zur Demokratisierung der Gesellschaft überhaupt –
und zur Herstellung echter Gerechtigkeit.
Zwei Strategien des »Aufstiegs durch Bildung«
In den 1960er und 1970er Jahren machte sich daher die Sozialdemokratie mit Recht auf, den »Aufstieg durch Bildung« zu organisieren. Eine Bildungsreform jagte die nächste. Ob Gesamt- und Fachhochschule, ob Einführung des Kurssystems in der gymnasialen Bildung und reformpädagogische Ansätze:
Immer ging es darum, Bildungserfolg und soziale Lage der Familien voneinander zu entkoppeln.
Allerdings gab es hierfür von Anfang an zwei Strategien: Man konnte einerseits im Rahmen kompensatorischer Maßnahmen die kulturelle Benachteiligung von Kindern durch besondere Förderarrangements auszugleichen versuchen. An den Leistungsanforderungen sollte folglich nicht geschraubt, sondern den Kindern der Arbeiterklasse in besonderer Weise dabei geholfen werden, den tradierten Leistungsanforderungen der bildungsbürgerlichen Welt zu genügen: Die Etablierung von Schulsozialarbeit, die Ausweitung der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe oder besonders kleine Lerngruppen und spezielle, fachlich ausgerichtete Förderangebote an den Schulen waren die Instrumente dieser Kompensationsstrategie. Was da eigentlich »kompensiert« werden sollte, wurde selten ausgesprochen, war aber trotzdem von Anfang an klar: Es ging um einen Ersatz für das unzureichende »kulturelle Kapital« (Pierre Bourdieu) proletarischer Elternhäuser und um das Durchbrechen der seit Jahrtausenden geltenden sozio-kulturellen Vererbungsmechanismen in den Familien.
Aber es gab immer auch eine zweite Möglichkeit. Die bestand nicht darin, besonders benachteiligten Kindern dabei zu helfen, die objektiv definierten Leistungshürden zu überwinden, sondern beim »Bildungslimbo« die Latte einfach schrittweise immer etwas höher zu legen. Und damit hier keine Missverständnisse entstehen: Beim Limbo muss man unter der Latte durchlaufen. Diese Ausweichstrategie hatte zwei unbestreitbare Vorteile: Sie konnte auf dem Papier schnell Erfolge vorweisen – das zeigte sich in drastisch steigenden Quoten der Beteiligung in der »höheren« Bildung – und vor allem: Sie kostete keinerlei Geld.
Was dabei herauskam, war allerdings kein Mehr an Bildung, sondern eine »Inflation der Bildungszertifikate« (Bourdieu), was insbesondere jenen Arbeiterkindern gegenüber eine historische Ungerechtigkeit war und bleibt, die tatsächlich noch mit Anstrengungsbereitschaft an ihrem gesellschaftlichen Aufstieg arbeiten.
Bildungsföderalismus: Chaos und Niveaulosigkeit
durch offene Regelsysteme
Manchmal kann die Wahrheit furchtbar unangenehm sein: Nein, die Sozialdemokratie verfolgte in den vergangenen Jahrzehnten nicht vordringlich die Umsetzung der Kompensationsstrategie, sondern beteiligte sich – wie andere auch – mit großem Eifer daran, die schulischen Leistungsanforderungen an die beklagenswerte Realität anzugleichen, und zwar nach unten. Einen ersten wesentlichen Einschnitt bildete dabei die Oberstufenreform des Jahres 1972. An die Stelle der gymnasialen Grundtypen mit relativ feststehendem Fächerkanon und Unterricht im festen Klassenverband trat damals das Kurssystem. Es sollte Oberstufenschüler große Wahlfreiheiten und damit die Möglichkeit individueller Schwerpunktsetzungen geben. Festgelegt wurden dabei drei sogenannte Aufgabenfelder: das sprachlich-literarisch-künstlerische, das gesellschaftswissenschaftliche sowie das mathematisch-naturwissenschaftlich-technische. Innerhalb dieser Bereiche waren die Fächer relativ frei wählbar. Neu war ebenso die Einführung unterschiedlicher Anspruchsniveaus. Nach Neigung, Begabung oder Leistung konnten zur individuellen Schwerpunktsetzung Leistungsfächer gewählt werden. Die individuell verschiedene Fächerwahl wird seitdem in einem komplizierten System aus Grund- und Leistungskursen verwirklicht.
Prof. Dr. Katja Koch
1970 in Rudolstadt geboren
1989 – 1995 Studium an der Universität Rostock (Sonderpädagogik, Germanistik)
1997 – 1999 Referendariat
2000 – 2005 wissenschaftl. Mitarbeiterin
2005 – 2008 Juniorprofessorin
seit 2008 Professorin für Sonderpädagogik an der Universität Rostock
Mathias Brodkorb
1977 in Rostock geboren
1997 – 2005 Studium an der Universität Rostock (Philosophie, Altgriechisch)
2002 – 2019 Landtagsabgeordneter
2011 – 2016 für die SPD Kultusminister
und 2016 – 2019 Finanzminister in
Mecklenburg-Vorpommern
seit 2019 Aufsichtsratschef der
Unikliniken Rostock und Greifswald
Diese Oberstufenreform war von Anfang an nicht unumstritten. Lehrer, Eltern und Schüler bemängelten insbesondere die nunmehr stark bürokratisierte und komplizierte Organisation der Oberstufe. Das größte faule Ei jedoch legte sich das System selbst ins Nest. Der gleichzeitige Erfolg der »Mobilisierung von Begabungsreserven« hatte inzwischen zu einem massiven Anstieg der Studentenzahlen geführt – von etwa 300.000 Mitte der 1960er auf fast 800.000 zehn Jahre später. Damit musste die Vergabe von Studienplätzen neu geregelt und in den begehrten Fächern vom Notendurchschnitt abhängig gemacht werden.
Gerade diese widersprüchliche Kombination von Wahlfreiheit und gleichzeitiger Aufwertung der Abiturnote als Kriterium für das Wahlstudium brachte Hochschulen und Wirtschaft auf den Plan: Die Wahlmöglichkeiten wären viel zu weitgehend und führten zu Beliebigkeit.
Gleichzeitig wurde ein bis dato für das Gymnasium bestimmender Gedanke aufgegeben: der eines (mehr oder minder) feststehenden Fächerkanons mit definiertem fachlichen Niveau. Von einer einheitlichen gymnasialen Grundbildung, so die Kritik, könne also de facto keine Rede mehr sein.
Um zu verstehen, was dann passieren musste, braucht man kein Organisationssoziologe zu sein:
Wird eine Vielzahl gleichberechtigter und entscheidungsbefugter Akteure (hier: die Bundesländer) in ein offenes Regelsystem entlassen und nicht das höchste Niveau an Bildung, sondern der höchste statistische Grad an »Bildungsbeteiligung« zum Entscheidungskriterium über Erfolg oder Misserfolg des Systems gemacht, geraten die Länder nahezu naturnotwendig in einen Unterbietungswettbewerb beim Höherlegen der Limbo-Stange – und driften immer weiter auseinander.
Beispiele über den beklagenswerten Zustand des Abiturs gefällig?
1. Man kann, so hat es die Kultusministerkonferenz (KMK) erst 2016 noch einmal bekräftigt, in den letzten beiden Schuljahren in Deutsch und Mathematik lauter Fünfen kassieren und in der Abiturprüfung sogar glatte Sechsen – und in Deutschland trotzdem die »allgemeine Hochschulreife« erwerben. Wie das funktionieren soll, wenn die KMK zugleich mit Recht darauf hinweist, dass Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen die für ein Studium relevantesten Fächer überhaupt seien, bleibt das Geheimnis von Deutschlands oberstem Bildungshüter. Die Folgen davon sind nicht schwer vorherzusehen: Deutschlands Abiturientenquoten und Studentenmassen steigen Jahrzehnt um Jahrzehnt – aber auch die Zahl der Studienabbrecher, bis das Niveau auch an den Hochschulen dank Bologna mal wieder nach unten korrigiert und der Abbrecherstatistik eine Verschnaufpause gegönnt wird.
2. Vor ein paar Jahren ließ ein deutscher Biologieprofessor in einer 9. Klasse in Nordrhein-Westfalen ohne jede fachliche Vorbereitung eine als »Streifenhörnchen-Aufgabe« bekannt gewordene Abitur-Biologie-Klausur des Landes schreiben. Das Ergebnis? Die Aufgaben waren so anspruchslos und die Bewertungsmaßstäbe so limbomäßig »humanistisch«, dass fast alle Kinder dieser Klasse das Abitur bestanden. In der 9. Klasse! Ohne jede Vorbereitung! Die abwiegelnde Reaktion aus dem Reich der empirischen Bildungsforschung: Da dies keine repräsentative Untersuchung gewesen sei, könne man aus diesem »Experiment« auch keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen für das Niveau des Systems ziehen. Einspruch, Euer Ehren! Die Sache ist ja so: Die gymnasiale Oberstufe wurde einst dazu erfunden, um als Propädeutik der Wissenschaft auf ein Universitätsstudium vorzubereiten.
Das für ein Abitur relevante Niveau kann definitionsgemäß folglich erst in den letzten beiden Jahrgangsstufen erreicht werden (Hypothese). Wenn dann Schüler einer 9. Klasse eine Abiturklausur spielend bestehen, wird die Hypothese falsifiziert und der behauptete sachliche Zusammenhang zwischen dem Abiturzeugnis und der Studierfähigkeit löst sich nachweislich in Luft auf. Gewiss, gewiss. Rein theoretisch ist es auch möglich, dass diese Klasse einen statistischen Zufall darstellt – so wie ein Sechser im Lotto zum Beispiel. Rein theoretisch möglich, aber doch ziemlich unwahrscheinlich. Blickt man allerdings in die fragliche »Abitur«-Aufgabe, wird des Rätsels Lösung schnell offenkundig: Pisa sei Dank fanden sich fast alle Antworten der Abituraufgabe bereits in der Aufgabenstellung selbst wieder. Man musste sie nur abschreiben können. Wenig später glänzte der Stadtstaat Hamburg bei einer Abiturprüfung mit einer Seeelefanten-Aufgabe.
3. Sieht man sich die Entwicklung der Abiturientenquote seit der Wiedervereinigung an, kann man sich nur verwundert die Augen reiben. Im Jahr 1992 legte noch fast jeder Vierte eines Altersjahrgangs das Abitur ab. Rund 25 Jahre später waren es mit 40 Prozent fast doppelt so viele – und trotzdem wurden die Durchschnittsnoten immer besser. Noch interessanter an den Abiturientenquoten sind allerdings die Unterschiede zwischen den Ländern. Es wird keinesfalls gleich häufig das Abitur vergeben. Die niedrigsten Abiturientenquoten von etwas mehr als 30 Prozent gab es im Jahr 2018 in Bayern und Sachsen-Anhalt, die Spitzenreiter waren Hamburg und Berlin mit über 50 Prozent. Wenn die Hamburger und Berliner Schüler deutschlandweit spitze wären, könnte man damit ja leben. Es ist aber genau umgekehrt: Die klügsten Gymnasiasten wohnen in Bayern und Sachsen, während die Hamburger und Berliner regelmäßig am Ende der Skala rangieren.
Die eklatanten Unterschiede zwischen den Ländern sind folglich bloß das Ergebnis einer wettbewerbsföderalen Manipulation des Bildungssystems und damit einer eigentlich vermeidbaren, staatlich organisierten Ungerechtigkeit.
4. Wussten Sie eigentlich das Folgende? Während in den Feuilletons regelmäßig davon geschwafelt wird, wie die Länder angeblich an der stärkeren Vergleichbarkeit des Abiturs arbeiten, können diese ihre föderale Herrlichkeit wie folgt austoben: Sie dürfen entscheiden, ob es vier oder fünf Abiturprüfungen gibt; ob zwei, drei oder vier Fächer auf erhöhtem Niveau absolviert werden müssen; wie viele Kurse in den letzten beiden Schuljahren eigentlich zu besuchen sind (zwischen den Ländern schwankt der Wert zwischen 34 und 48); wie viele dieser Kurse in die Abi-Note eingebracht werden müssen (zwischen den Ländern schwankt der Wert zwischen 32 und 40); ob man seine Abiturprüfung in Deutsch und Mathematik ablegen muss oder nicht (selbst das Musterländle Bayern schafft diese Pflicht gerade ab); wie die erbrachten Leistungen am Ende bewertet werden; und, und, und …
Beste Bedingungen also für das Gesellschaftsspiel »Deutschland bastelt sich den Super-Abi-Durchschnitt«.
Fassen wir zusammen: Die Länder haben beim Abitur so viele Manipulationsmöglichkeiten (und nutzen diese reichlich), dass von einer Gleichwertigkeit des Abiturs zwischen den Ländern nicht einmal ansatzweise die Rede sein kann. Gerechtigkeitsaspekte geraten dabei ebenso unter die Räder wie das Niveau der Allgemeinen Hochschulreife. Das rief zwischenzeitlich auch mehrfach das Bundesverfassungsgericht auf den Plan, das in Urteilen die mangelnde Vergleichbarkeit der Abiturnoten als ein verfassungsrechtliches Problem monierte, schließlich ist der Staat zur Gleichbehandlung seiner Bürger durch das Grundgesetz verpflichtet. Geändert hat sich indessen eigentlich: nichts.
Sozialdemokratie als Gerechtigkeitspartei des 21. Jahrhunderts?
Die Sozialdemokratie ist – als Volkspartei – eine überaus gefährdete Spezies. In ihrer Mitgliedschaft, noch mehr aber zwischen ihren Funktionären und ihrer Stammwählerschaft, tobt ein veritabler Kulturkampf.
Akademisch gebildete, multikulturell orientierte Globalisierungsgewinner aus der Mittelschicht stehen traditionell orientierten, nichtakademisch gebildeten Globalisierungsverlierern gegenüber.
Während die einen – soziologisch betrachtet – genauso gut Mitglieder der Grünen sein könnten, wählen die anderen gar nicht so selten die AfD.
Will die SPD als Volkspartei überhaupt eine Chance haben zu überleben, ist sie daher auf politische Klammerprojekte angewiesen, die die so unterschiedlichen Milieus in einem gemeinsamen Wertehorizont wieder zusammenführen. Ausgerechnet die Niederringung des unter den Eliten der Bundesrepublik West nahezu sagenumwobenen Bildungsföderalismus könnte hierfür nützlich sein.
So gab die Zeitschrift Eltern im Jahr 2009 eine repräsentative Umfrage beim Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag. Gefragt wurde seinerzeit auch, ob das Bildungssystem von Bundesland zu Bundesland zu unterschiedlich sei und dringend vereinheitlicht werden müsse. Das bejahten 91 Prozent aller Befragten.
Im Jahr 2011 führte eine gemeinsame Initiative von Roland Berger Strategy Consultants, der Bertelsmann Stiftung, BILD und Hürriyet eine Onlineumfrage zum Thema Bildung durch, bei der insgesamt rund 480.000 Teilnehmer verzeichnet werden konnten. Auch in dieser Umfrage spielte die Frage nach einem einheitlicheren Bildungssystem eine zentrale Rolle – mit einem nahezu erdrückenden Befund: 92 Prozent aller Befragten beklagten, dass sich der schulische Lernstoff zwischen den Bundesländern unterscheidet. Ebenfalls 92 Prozent forderten, dass schulische Abschlussprüfungen »in allen Bundesländern einheitlich« sein sollten.
Eine vielfältige Schullandschaft ist einem bundesweit vorgegebenen Schulmodell mit einem einheitlichen Lehrplan im Interesse einer freien Gesellschaft vorzuziehen. Die Schulen entscheiden selbst über ihre Schwerpunkte.
Die Schulkonferenz, in der Lehrer, Eltern und Schülerinnen vertreten sind, entscheidet über die einzusetzenden Schulbücher (soweit noch mit Schulbüchern gearbeitet wird) und die Auswahl bei neu einzustellenden Lehrkräften.
Da der Unterricht zumindest in den höheren Jahrgängen auf dem Prinzip des exemplarischen Lernens beruht, ist es sinnvoll, wenn Lehrer und Schüler gemeinsam über zu behandelnde Literatur im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht wie auch über die Schwerpunkte in den Naturwissenschaften entscheiden.
Kritiker solcher liberalen Schulmodelle befürchten Niveauverluste. Der Wechsel vom (auswendig) Lernen – »Pauken« – zum (kritischen) Denken erscheint manchmal so, aber die Besorgnis ist unbegründet.
Nach meiner Erfahrung als Hochschullehrer ist die Fremdsprachenkompetenz der Studenten deutlich gestiegen, ebenso die Fähigkeiten zum eigenständigen Arbeiten (wobei ich hier ein Stadt-Land-Gefälle beobachten konnte).
Nachgelassen hat die Rechtschreibkompetenz, was wohl eine Folge des Fokus auf Verstehen und Analyse ist. Rechtschreibung kann man nicht verstehen, nur lernen und üben. Gerade wenn die Schulen viel Autonomie genießen, entwickelt sich daraus der Wettbewerb, die »beste« Schule zu sein. Vor Ort ist in der Regel bekannt, welche Schule viel »verlangt«, welche »schwerer« oder »leichter« ist. Nicht die vermeintlich »leichten« sind gefragt, sondern die anspruchsvollen. Insofern gibt es einen Ansporn für die Schulen, auf Unterrichtsqualität zu achten. Daneben bleibt immer noch die Schulaufsicht der Landesbehörden, die die Abschlussprüfungen überwachen und damit die Standards sichern.
Ein weiterer Kritikpunkt am vielfältigen Schulsystem ist die Vergleichbarkeit zwischen den Schulen. Tatsächlich ist die Vergleichbarkeit von Schulen an keiner Stelle als Bildungsziel definiert. Warum wird sie dann für wichtig gehalten? Es soll vermieden werden, dass Schüler Nachteile erleiden, wenn die Eltern von einem Land in ein anderes ziehen. Das kann zweifellos Probleme hervorrufen. Dabei wird aber übersehen, dass schon die Vergleichbarkeit von zwei Schulen an einem Ort in der Regel nicht möglich ist, weil sie unterschiedliche Profile entwickelt haben. Zum Beispiel in der Sprachenfolge: Das eine Gymnasium bietet Englisch und Latein als die beiden ersten Pflichtfremdsprachen an und verlangt eine dritte, Französisch oder Altgriechisch, und bietet zudem fakultativ Italienisch als vierte an. In der 500 Meter entfernten Schule beginnt man mit Französisch, dann kommt Englisch hinzu, weitere Sprachen folgen fakultativ. In der erstgenannten Schule wurden im Geschichte-Leistungskurs mittelalterliche Quellen in der Originalsprache, in Latein, im Unterricht behandelt. Die andere Schule – bilingual – unterrichtete mehrere Fächer in Französisch. Begrüßenswert vielfältig, aber nicht vergleichbar!
Vergleichbarkeit scheitert auch am Unterricht selbst. In den Naturwissenschaften oder in der Mathematik wird niemals das ganze Lehrbuch durchgenommen, sondern jeder Lehrer wählt Schwerpunkte aus. In der Geschichte oder Geografie ist es ebenso. Von Klasse zu Klasse unterscheidet sich das. Wie will man das vergleichen?
Vergleichbarkeit scheitert auch am Unterricht selbst. In den Naturwissenschaften oder in der Mathematik wird niemals das ganze Lehrbuch durchgenommen, sondern jeder Lehrer wählt Schwerpunkte aus. In der Geschichte oder Geografie ist es ebenso. Von Klasse zu Klasse unterscheidet sich das. Wie will man das vergleichen?
Ähnlich fielen die Ergebnisse des ifo-Bildungsbarometers der Jahre 2014 und 2015 aus. In beiden Untersuchungen wurden jeweils mehr als 4.000 Bürger befragt. Auch hier ist das Ergebnis überwältigend eindeutig: Mehr als 80 Prozent der Befragten sprachen sich für die Einführung bundesweit einheitlicher Abschlussprüfungen in allen Schularten aus. Auch jüngste Umfragen bestätigen diesen eindeutigen Befund.
Dabei überrascht es nicht, dass die Zustimmung der Bevölkerung zu einem stärker zentral geprägten Schulsystem im Osten höher ausfällt als im Westen – aber auch dort bekennen zuverlässig deutlich mehr als die Hälfte der Befragten ihr Unverständnis über das föderale Bildungschaos.
Diese demoskopischen Tatsachen liegen so offenkundig zutage, dass man sich über die Verzagtheit der Sozialdemokratie nur verwundert die Augen reiben kann.
Im Kampf um die Herstellung eines tatsächlich an Leistung und Gerechtigkeit orientierten, zentral gesteuerten Bildungssystems könnte die Sozialdemokratie nicht nur glaubwürdig an ihr historisches Gründungsnarrativ anknüpfen, sondern vor allem eine kulturelle und staatspolitische Klammer um die in einer individualisierten Gesellschaft auseinanderdriftenden sozialen Milieus konstruieren. Die Ost-SPD wiederum könnte auf der Basis eigenen historischen Erlebens der meisten ihrer Mitglieder zur glaubwürdigen »Avantgarde« dieses Kampfes um eine staatlich garantierte Gerechtigkeitspolitik im Bereich Bildung werden. Was eigentlich hält sie davon ab?
Soll die Qualität des Lehrkörpers einer Schule zur maßgeblichen Variable eines Rankings werden?
Wenn Vergleichbarkeit kein Ziel der Bildungspolitik ist, wenn die Voraussetzungen dazu aufgrund der Unterschiedlichkeit der Schulen, der Lehrer und der fehlenden Homogenität in den Klassen nicht möglich ist, warum ist sie dann überhaupt ein Thema? Ein wichtiger Grund liegt darin, dass die Abiturnote zu einem zentralen Verteilungskriterium von Studienplätzen geworden ist. Wenn die Nachfrage nach bestimmten Studienfächern größer ist als das Angebot, wird in der Regel der Zugang über die Abiturnote geregelt. Am bekanntesten ist der Numerus clausus für das Medizinstudium. Weil die Länder zu wenige Studienplätze in diesem Fach anbieten – zwei bieten keine an, insgesamt liegt das Angebot deutlich unter dem OECD-Durchschnitt –, wird bei der Verteilung der Studienplätze auf die Abiturnote zurückgegriffen. Damit stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit eines für diesen Zweck gänzlich ungeeigneten Instruments. Die Abiturnote ist nicht objektiv und wäre auch in einem zentralisierten System nicht objektivierbar, weil für die Frage der Gerechtigkeit nicht nur die Leistung entscheidend wäre, sondern auch das
Umfeld – gute oder schlechte Lehrer, soziale Zusammensetzung der Klassen usw. –, das entsprechend berücksichtigt werden müsste. Das ist nicht möglich.
Vergleichbarkeit wird nur deshalb wichtig, weil sie für die Verwaltung des Mangels erforderlich ist, weil die Länder ihren Aufgaben, nämlich der Bereitstellung einer hinreichenden Zahl von Studienplätzen, nicht nachkommen.
Gerade in der Medizin ist das deutlich, denn ohne die Anwerbung von Ärzten aus dem Ausland stände es in Deutschland erheblich schlechter um das Gesundheitswesen.
Zusammengefasst: Ein lebendiges, an der freien Entfaltung der individuellen Schüler orientiertes, zum selbstständigen Denken erziehendes Schulsystem kann nur dezentral verfasst sein, nicht zentralistisch. Der Ruf nach Vergleichbarkeit, das heißt nach Zentralisierung, ist lediglich eine planwirtschaftliche Reaktion auf das Versagen der Länder bei der Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl von Studienplätzen, es ist nicht mehr als schlechte Verwaltung des Mangels. Aber die Probleme des einen Übels lassen sich kaum durch ein anderes lösen.