Bildungsföderalismus

PRO

Bildungs­föderalismus – bloß Ärger für Schüler und Eltern?

Ein Plädoyer für Vielfalt

Die Debatte um eine zukunftsfähige Schul- und Bildungspolitik begann in der Bundesrepublik Mitte der 1960er Jahre. Georg Picht rief den »Bildungsnotstand« aus, Ralf Dahrendorf plädierte für »Bildung als Bürgerrecht«. Beide sahen den »Bildungsnotstand« als demokratiegefährdend an. Insbesondere wurde die soziale Undurchlässigkeit des bestehenden Schulsystems kritisiert: »Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein katholisches Mädchen vom Lande Abitur macht«, hieß es seinerzeit. Aber nicht nur (katholische) Mädchen auf dem Lande, sondern auch Mädchen und Jungen aus der Arbeiterschicht hatten nur geringe Chancen, in dem bestehenden Schulsystem das Abitur zu schaffen oder gar zu studieren. Auf diese Form der Benachteiligung breiter Schichten der Bevölkerung in der Bildung reagierten Gesellschaft und Politik tatsächlich: »Schick Dein Kind länger auf bessere Schulen« wurde zum neuen Slogan, breit unterstüzt vom traditionellen Bildungsbürgertum über die Arbeitgeberverbände bis hin zu den Gewerkschaften. 

Die alte Bundesrepublik erlebte daraufhin in der zweiten Hälfte der 1960er und der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine ungeahnte Bildungsexpansion. Insbesondere soziale Schichten, die – modern ausgedrückt – bis dahin als »bildungsfern« galten, investierten in die Bildung und damit in den sozialen Aufstieg ihrer Kinder. Man war sich einig: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen! 

Es gelang damals, die sozialen Barrieren zu einer besseren Bildung zu reduzieren, viele Kinder aus nichtakademischen Haushalten bestanden als erste in ihrer Familiengeschichte das Abitur und begannen ein Studium.

Für die Einzelnen bedeutete das, mehr Chancen für die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, mehr Freiheit zu besitzen, für Gesellschaft und Wirtschaft wuchs das Potenzial an qualifizierten Menschen. Der Aufbruch war spürbar, insbesondere dann, wenn Eltern oder Großeltern mit Stolz berichteten: Meine Tochter, mein Enkelsohn macht jetzt Abitur. Das war für viele etwas sehr Besonderes.

Chronische Unterfinanzierung und ideologisch geführte Debatten
Doch der Optimismus des Aufbruchs hielt nicht lange an. Zwar wurden während der ersten Großen Koalition im Bund (1966–1969) und vor allem während der frühen Jahre der sozial-liberalen Koalition (1969–1982) die Rahmenbedingungen für die Bildung verbessert (Willy Brandt: »Die Schule ist die Schule der Nation!«), jedoch litt die Bildungspolitik an zwei Umständen.
Der erste war und ist die chronische Unterfinanzierung des bundesdeutschen Bildungssystems, an der sich im Grundsatz im Laufe der Jahre wenig änderte. Stets belegte die Bundesrepublik bei OECD-Vergleichen über die nationalen Bildungsausgaben die hinteren Ränge.

Wenn in den Ländern das Geld knapp war – und wann war das nicht? –, spürte die Bildung das zuerst. Warum das? Die Länder sind im Bundesstaat die fiskalisch schwächere Ebene.

Prof. Dr. Wolfgang Renzsch

Prof. Dr. Wolfgang Renzsch

1969 – 1978 Studium der
Politikwissenschaft und der Germanistik an den Universitäten Hannover und Göttingen sowie der London School of Econo­mics and Political Science
1978 Promotion an der Uni­versität Göt­tingen
1979 – 1992 Wissenschaftlicher Referent im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung
1992 Habilitation an der
Universität Göttingen
1992 – 1994 tätig im
Ministerium der Finan­zen in Brandenburg
1994 Ernennung zum Universitätsprofessor an der Otto-von-Gue­ricke-Universität Magdeburg
2005 Zuerkennung eines Jean-Monnet-Lehrstuhls
2017 emeritiert

Bei ihren Einnahmen sind sie abhängig von der Bundesgesetzgebung, bei ihren Ausgaben hat der Vollzug von Bundesgesetzen verfassungsrechtlich Priorität vor den Landesaufgaben. Wenn gespart wird, dann ist das nur bei den vom Land selbst verantworteten Ausgaben wie Schule und Bildung möglich. Beides hat den »Vorteil«, dass Wähler die Folgen nicht sofort im Geldbeutel spüren. Daher ist die Schule das Sparschwein der Nation. Eine weitere Kuriosität kommt hinzu: Lehrer sind die einzigen Bediensteten des öffentlichen Dienstes, die ihre Arbeitsmittel – vom Bleistift bis zum PC – selbst bezahlen müssen. Warum diese Ungleichbehandlungen z. B. gegenüber Hochschullehrern nicht längst politisch thematisiert worden ist, ist unverständlich.

Die strukturelle Unterfinanzierung des deutschen Bildungssystems zeigt sich schlaglichtartig in der Medizin: Die Anzahl der an den Universitäten angebotenen Studienplätze reicht weder, um den Bedarf an Ärzten, insbesondere auf dem Land und in Krankenhäusern, noch die Nachfrage nach Studienplätzen zu decken.

Hausärzte finden, wenn sie aus Altersgründen ausscheiden, keine Nachfolger, der Mangel an Landärzten ist immens und schließlich funktionieren unsere Krankenhäuser vielfach nur noch, weil Ärzte aus anderen Ländern angeworben werden, deren Gesundheitssysteme meist deutlich schlechter sind als das deutsche. Für die Pflege gilt dasselbe. Das Ganze ist bei genauerer Betrachtung ein Skandal.

Der zweite Umstand war eine ideologisch getriebene Debatte über Schulreformen. Es ging um den Erhalt oder die Abschaffung des in Volksschule, Mittelschule und Oberschule – dann umbenannt in Hauptschule, Realschule und Gymnasium – gegliederten Schulsystems und den Ersatz durch Gesamtschulen. Ideologisch aufgeheizt wurde die Debatte, weil es kaum um die beste Schulpolitik ging, sondern vielmehr um Gesellschaftsveränderung. Schon die alte Begrifflichkeit für die verschiedenen Schultypen wies auf ein hergebrachtes hierarchisches Gesellschaftsmodell hin. Der progressive Teil der Gesellschaft wollte mittels Schule die Gesellschaft verändern, was der konservative Teil vehement ablehnte. Die Inhalte kamen in der jahrelang heftig geführten Auseinandersetzung, die vor allem organisationspolitische Fragen thematisierte, zu kurz: Welches sind die Ziele von Schule, was kann, was soll sie leisten, gibt es so etwas wie verpflichtende Lernziele und -inhalte, einen verpflichtenden Bildungskanon? Diese Fragen wurden nicht beantwortet, nicht einmal gestellt.

Autonomie der Schulen stärken
Was soll Schule leisten? Diese Frage beantwortet man am besten mit Immanuel Kant, der in seiner kleinen Schrift, »Was ist Aufklärung?« (1783), das Ziel der Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« definiert. Es geht um die Fähigkeit, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Modern ausgedrückt heißt das, dass Schulen in einem freiheitlich-demokratischen Staat sich an dem Verfassungsgebot der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) zu orientieren haben und die Schüler zu kritischen, selbst denkenden und verantwortlich handelnden Menschen erziehen sollen.
Wie sollten die Schulen aussehen, die zu mündigen, freiheitlich-demokratischen Menschen erziehen?

Die historische Erfahrung der beiden deutschen Diktaturen hat gezeigt, dass nationale zentral gesteuerte Bildungssysteme zwar in der Lage sind, technisch verwertbares Wissen zu vermitteln, aber kaum die Fähigkeit zum eigenständigen Hinterfragen, zur kritischen Analyse und eigenen Meinungsbildung.

Aber nicht nur die historischen Erfahrungen und der Missbrauch durch autoritäre Regime sprechen gegen eine zentralisierte Schul- und Bildungspolitik, die Vorstellung einer Standardisierung der Bildungsinhalte selbst spricht gegen das Erziehungsziel von kritischen, freiheitlichen Bürgern.
Sinnvoll ist, die Autonomie der Schulen und deren Möglichkeiten zur Profilbildung zu stärken. Die Eltern und ihre Kinder sollen entscheiden können zwischen verschiedenen Schultypen und unterschiedlichen Profilen, zwischen solchen mit sprachlichen, musischen oder naturwissenschaftlichen Schwerpunkten. Ihnen sollen Schulen mit bilingualem Unterricht und der Möglichkeit angeboten werden, mit dem deutschen auch einen weiteren Abschluss, den französischen Baccalauréat oder den amerikanischen High-School-Abschluss, zu erwerben.

Eine vielfältige Schullandschaft ist einem bundesweit vorgegebenen Schulmodell mit einem einheitlichen Lehrplan im Interesse einer freien Gesellschaft vorzuziehen. Die Schulen entscheiden selbst über ihre Schwerpunkte.

Die Schulkonferenz, in der Lehrer, Eltern und Schülerinnen vertreten sind, entscheidet über die einzusetzenden Schulbücher (soweit noch mit Schulbüchern gearbeitet wird) und die Auswahl bei neu einzustellenden Lehrkräften.
Da der Unterricht zumindest in den höheren Jahrgängen auf dem Prinzip des exemplarischen Lernens beruht, ist es sinnvoll, wenn Lehrer und Schüler gemeinsam über zu behandelnde Literatur im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht wie auch über die Schwerpunkte in den Naturwissenschaften entscheiden.
Kritiker solcher liberalen Schulmodelle befürchten Niveauverluste. Der Wechsel vom (auswendig) Lernen – »Pauken« – zum (kritischen) Denken erscheint manchmal so, aber die Besorgnis ist unbegründet.

Nach meiner Erfahrung als Hochschullehrer ist die Fremdsprachenkompetenz der Studenten deutlich gestiegen, ebenso die Fähigkeiten zum eigenständigen Arbeiten (wobei ich hier ein Stadt-Land-Gefälle beobachten konnte).

Nachgelassen hat die Rechtschreibkompetenz, was wohl eine Folge des Fokus auf Verstehen und Analyse ist. Rechtschreibung kann man nicht verstehen, nur lernen und üben. Gerade wenn die Schulen viel Autonomie genießen, entwickelt sich daraus der Wettbewerb, die »beste« Schule zu sein. Vor Ort ist in der Regel bekannt, welche Schule viel »verlangt«, welche »schwerer« oder »leichter« ist. Nicht die vermeintlich »leichten« sind gefragt, sondern die anspruchsvollen. Insofern gibt es einen Ansporn für die Schulen, auf Unterrichtsqualität zu achten. Daneben bleibt immer noch die Schulaufsicht der Landesbehörden, die die Abschlussprüfungen überwachen und damit die Standards sichern.

Ein weiterer Kritikpunkt am vielfältigen Schulsystem ist die Vergleichbarkeit zwischen den Schulen. Tatsächlich ist die Vergleichbarkeit von Schulen an keiner Stelle als Bildungsziel definiert. Warum wird sie dann für wichtig gehalten? Es soll vermieden werden, dass Schüler Nachteile erleiden, wenn die Eltern von einem Land in ein anderes ziehen. Das kann zweifellos Probleme hervorrufen. Dabei wird aber übersehen, dass schon die Vergleichbarkeit von zwei Schulen an einem Ort in der Regel nicht möglich ist, weil sie unterschiedliche Profile entwickelt haben. Zum Beispiel in der Sprachenfolge: Das eine Gymnasium bietet Englisch und Latein als die beiden ersten Pflichtfremdsprachen an und verlangt eine dritte, Französisch oder Altgriechisch, und bietet zudem fakultativ Italienisch als vierte an. In der 500 Meter entfernten Schule beginnt man mit Französisch, dann kommt Englisch hinzu, weitere Sprachen folgen fakultativ. In der erstgenannten Schule wurden im Geschichte-Leistungskurs mittelalterliche Quellen in der Originalsprache, in Latein, im Unterricht behandelt. Die andere Schule – bilingual – unterrichtete mehrere Fächer in Französisch. Begrüßenswert vielfältig, aber nicht vergleichbar!

Vergleichbarkeit scheitert auch am Unterricht selbst. In den Naturwissenschaften oder in der Mathematik wird niemals das ganze Lehrbuch durchgenommen, sondern jeder Lehrer wählt Schwerpunkte aus. In der Geschichte oder Geografie ist es ebenso. Von Klasse zu Klasse unterscheidet sich das. Wie will man das vergleichen?

Zentralisierte Prüfungen würden unter diesen Umständen zu einer Lotterie.

Schließlich die Bewertungsmaßstäbe der Lehrer. Die Feststellung, dass zwei Deutschlehrer einen Aufsatz, sagen wir die Interpretation eines Gedichtes von Ingeborg Bachmann oder Bertolt Brecht, durchaus unterschiedlich bewerten, ist schon eine Binse. Bemerkenswert ist aber auch, dass derselbe Lehrer denselben Aufsatz bei einer zweiten Bewertung nach einer gewissen Frist anders beurteilt als beim ersten Mal. Auch Lehrer entwickeln sich und verändern ihre Maßstäbe, alles andere ist kaum denkbar und wäre auch nicht wünschenswert. Das trifft nicht nur für die »kulturlastigen« Fächer zu, sondern gilt auch für die Naturwissenschaft en oder Mathematik. In den abschließenden Schuljahren sind die Aufgaben in der Mathematik komplex und selten eindeutig mit richtig oder falsch zu beantworten. In der Regel gibt es mehrere Lösungsansätze und verschiedene Lösungswege, die Mathematiklehrer durchaus unterschiedlich bewerten. Schließlich unterscheidet sich auch die fachliche Qualifi kation der Lehrer:

Untersuchungen haben gezeigt, gute Lehrer »produzieren« leistungsstarke Schüler, schlechte (»Quereinsteiger«) eher leistungsschwache. Zentralisierte Vergleiche würden Schülern von schlechten Lehrern gegenüber Schülern von guten Lehrern benachteiligen.

Soll die Qualität des Lehrkörpers einer Schule zur maßgeblichen Variable eines Rankings werden?

Wenn Vergleichbarkeit kein Ziel der Bildungspolitik ist, wenn die Voraussetzungen dazu aufgrund der Unterschiedlichkeit der Schulen, der Lehrer und der fehlenden Homogenität in den Klassen nicht möglich ist, warum ist sie dann überhaupt ein Thema? Ein wichtiger Grund liegt darin, dass die Abiturnote zu einem zentralen Verteilungskriterium von Studienplätzen geworden ist. Wenn die Nachfrage nach bestimmten Studienfächern größer ist als das Angebot, wird in der Regel der Zugang über die Abiturnote geregelt. Am bekanntesten ist der Numerus clausus für das Medizinstudium. Weil die Länder zu wenige Studienplätze in diesem Fach anbieten – zwei bieten keine an, insgesamt liegt das Angebot deutlich unter dem OECD-Durchschnitt –, wird bei der Verteilung der Studienplätze auf die Abiturnote zurückgegriffen. Damit stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit eines für diesen Zweck gänzlich ungeeigneten Instruments. Die Abiturnote ist nicht objektiv und wäre auch in einem zentralisierten System nicht objektivierbar, weil für die Frage der Gerechtigkeit nicht nur die Leistung entscheidend wäre, sondern auch das
Umfeld – gute oder schlechte Lehrer, soziale Zusammensetzung der Klassen usw. –, das entsprechend berücksichtigt werden müsste. Das ist nicht möglich.

Vergleichbarkeit wird nur deshalb wichtig, weil sie für die Verwaltung des Mangels erforderlich ist, weil die Länder ihren Aufgaben, nämlich der Bereitstellung einer hinreichenden Zahl von Studienplätzen, nicht nachkommen.

Gerade in der Medizin ist das deutlich, denn ohne die Anwerbung von Ärzten aus dem Ausland stände es in Deutschland erheblich schlechter um das Gesundheitswesen.

Zusammengefasst: Ein lebendiges, an der freien Entfaltung der individuellen Schüler orientiertes, zum selbstständigen Denken erziehendes Schulsystem kann nur dezentral verfasst sein, nicht zentralistisch. Der Ruf nach Vergleichbarkeit, das heißt nach Zentralisierung, ist lediglich eine planwirtschaftliche Reaktion auf das Versagen der Länder bei der Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl von Studienplätzen, es ist nicht mehr als schlechte Verwaltung des Mangels. Aber die Probleme des einen Übels lassen sich kaum durch ein anderes lösen.