Wahrnehmungen im
Zeitalter der Verwirrung –
wie die Sozialsysteme
zu Opfern der Informationsflut werden können

 
 

Wir leben in einem Zeitalter der Verwirrung. Dieser Satz macht die Sache erst mal nicht einfacher. Er ist verstörend. Niemand hört gern, dass er oder sie verwirrt ist. Trotzdem ruft er bei den meisten Menschen ein betroffenes Nicken hervor. Viele von uns erleben es als zunehmend schwierig, uns über unser Zusammenleben und unsere Wirklichkeit zu informieren. Bei einigen hat die Verwirrung zu einem Rückzug ins Private geführt, zur Nachrichtenverweigerung und dem Versuch eines »digital detox«. Andere suchen ihr Heil in Verschwörungstheorien und Lügenpresse-Vorwürfen bis hin zur völligen Ablehnung der gesellschaftlichen Ordnung.

Kein Wunder ist es da, dass vor allem die Systeme des Sozialstaats sehr leicht zu Opfern der Verwirrung, des Unverständnisses und oft auch der Ablehnung werden. Sie kosten die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler augenscheinlich viel Geld. Sie erscheinen jenen, denen sie helfen sollen, den wirklich Bedürftigen, manchmal ungerecht. Oft beuten sie jene aus, die in ihnen arbeiten. Und viele haben den Verdacht, dass die Sozialsysteme von Menschen »ausgenutzt« werden, die nicht in sie eingezahlt haben. Gleichzeitig werden politische Forderungen nach einer Neubelebung der sozialen Infrastruktur, wie sie DGB-Chefin Yasmin Fahimi in ihrer TV-Ansprache zum 1. Mai 2023 forderte, oft als »noch mehr Sozialstaat« verstanden, als eine Vergrößerung des Problems. Das erstickt ernstgemeinte Reformbemühungen immer wieder schon im Ansatz. Die politische Skepsis angesichts höherer Investitionen ins Sozialsystem, wie sie bei einigen Parteien vorherrscht, gießt da in der öffentlichen Diskussion noch Öl ins Feuer.

Damit wäre das Klagelied über die Bedrohung des Sozialstaats gesungen. Dieser Evergreen ist längst zum Teil der allgemeinen Informationsüberflutung geworden. So weit so schlecht? Nicht unbedingt. Denn wer den Sozialstaat ernsthaft leistungsfähig machen will, der braucht eine Menge politischer Unterstützung. So viel, dass das Ja der direkt Betroffenen – der Nutznießenden und der Beschäftigten der Sozialsysteme – nicht ausreichen wird. Die Unterstützung muss übergreifend sein und auch eine tief verwurzelte Einsicht oder zumindest das Vertrauen in die Investition Sozialstaat einschließen. Es lohnt sich deshalb, weiter miteinander zu reden und darauf zu schauen, woher die Verwirrung und die aus ihr oft resultierende Ablehnung kommen.

Beschleunigte Informationsfasern – mediale Vertrauenskrise

Innerhalb von nur einem Vierteljahrhundert hat sich unsere Welt dramatisch verändert und Hand in Hand damit auch unsere Wahrnehmung der Welt.

Acht Milliarden Menschen leben zunehmend in acht Milliarden Welten. Es wirkt widersprüchlich, aber wir sind besser miteinander verbunden als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Und die größte Zahl der Menschen – vor allem in den modernen Industrienationen – lebt gleichzeitig isolierter als je zuvor.

Das eigene Ich ist milliardenfach zum Dreh- und Angelpunkt der individuellen Wahrnehmung geworden.

Robert Burdy
Autor, Journalist, Executive Coach, Rhetorik- und Medientrainer, Autor des Spiegel-Bestsellers »Wir informieren uns zu Tode« (mit Gerald Hüther, Herder 2022)

1964 in Köln geboren

 

2001 – 2022 Moderator der Hauptnachrichtensendung im MDR-Fernsehen

ab 1989 in Washington, zunächst als Korrespondent von RIAS-TV, dann als stellvertretender Studioleiter des Deutsche Welle Fernsehens, währenddessen Produktion zahlreicher Fernsehdokumentationen in den USA und im Nahen Osten

ab 1988 Redakteur bei RIAS-TV in Berlin

ab 1982 Beginn der journalistischen Arbeit, zunächst als Zeitungsreporter, nach mehreren Jahren Wechsel zum Radio und Fernsehen

Der Informationsaustausch führt nicht mehr zu Verbundenheit, sondern zu einer zunehmenden Isolierung. Das von Neil Postman noch in den 1980ern postulierte »Lagerfeuer« des Fernsehens, um das sich moderne Industriegesellschaften allabendlich versammelten, ist noch nicht erloschen, aber von individuellen Digitalgeräten ersetzt worden. Ja, es gibt noch das lineare Fernsehen – aber nicht mehr als kommunikativen Versammlungsort ganzer Gesellschaften. Junge Menschen finden in den Zuschauerstatistiken öffentlich-rechtlicher Anstalten kaum noch statt. Deren Versuche der Programmverjüngung beschränken sich oft auf den Austausch erfahrener Bildschirmjournalistinnen und -journalisten gegen hippe Youtuber. Zeitungen sterben langsam, aber sie sterben. Und der Inhalt, den sie unter dem wirtschaftlichen Druck noch anbieten können, ist in vielen Fällen spärlich. Ganze Bevölkerungsgruppen haben das Vertrauen in die etablierten Medien verloren. Andere hadern mit der Frage, ob sie unserem System der Informationsvermittlung noch vertrauen dürfen.

Gleichzeitig sind Informationen kein knappes Gut mehr. Jede Information ist auf dem Markt. Und oft auch das exakte Gegenteil. Die Zeiten, in denen Mächtige ihre Bevölkerungen durch Informationsentzug klein und ohnmächtig halten konnten, gehen zu Ende. Nicht nur deshalb, aber auch deshalb wirken Systeme wie das des Wladimir Putin so steinzeitlich. Selbst die chinesische Führung hat mit all ihrem Durchgreifen in die privatesten Lebensbereiche noch keine nachhaltige Antwort gefunden auf die Frage, wie sich 1 Milliarde Menschen in einem hochtechnisierten Land auf Dauer Informationen vorenthalten lassen.

Täglich werden weltweit 330 Milliarden E-Mails versendet. Allein auf der Plattform i-Messenger dudeln stündlich 12 Millionen Botschaften durch den Informationsraum. In China kommen auf 100 Einwohnerinnen /Einwohner 119 Handys. Und bevor jemand die Chinesinnen und Chinesen belächelt nach dem Motto »Die spinnen, die Chinesen« – bei uns in Deutschland sind es 134 Handys pro 100 Einwohnerinnen /Einwohner. Und das sind seit der Einführung des ersten iPhone 2007, die gemeinhin als Geburtsstunde des Smartphones gilt, keine Fernsprechapparate mehr. Zumindest nicht vorrangig. 1,34 statische Handys pro Nase, pro Gehirn. Vielleicht spinnen wir ja auch? Jedenfalls bleibt es jedem selbst überlassen, aus dem Wust von Informationsfasern sein eigenes Garn zu spinnen, dass dann zu einem mehr oder weniger fadenscheinigen Zwirn des Verständnisses unserer Welt verwoben wird.

Glaubenssätze statt Faktenpakete

Damit wird eine Tatsache verschärft, die bei uns Menschen und in unseren Gehirnen durchaus ganz natürlich angelegt ist:

Acht Milliarden Menschen leben zunehmend in acht Milliarden Welten. Es wirkt widersprüchlich, aber wir sind besser miteinander verbunden als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Und die größte Zahl der Menschen – vor allem in den modernen Industrienationen – lebt gleichzeitig isolierter als je zuvor.

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©picture alliance / dpa, Wolfgang Krumm

Der begnadete britische Pädagogikprofessor Sir Ken Robinson hat das so ausgedrückt: »Wir leben alle in zwei Welten. Es gibt eine Welt, die existiert, gleichgültig ob du existierst oder nicht. Eine Welt, die entstanden ist, bevor du dazukamst, und die existieren wird, wenn es dich nicht mehr gibt. Eine Welt anderer Menschen, Objekte, Ereignisse und Phänomene. Und dann gibt es eine Welt, die entstanden ist, als du entstanden bist, und die sich verändert oder endet, wenn du dich veränderst oder nicht mehr da bist. Das ist die Welt deines Bewusstseins, deine Welt. Wir sehen die äußere Welt, in der wir alle leben, durch diese innere Welt.«

Wie gesagt, das ist erst mal ganz normal und so angelegt. Menschlich. Wir leben alle in unserer kleinen, eigenen Wahrnehmungswelt. Und über Jahrmillionen der Evolution war das auch – von zwischenmenschlichen Störungen abgesehen – unproblematisch für die Menschheit. Aber mit einer globalisierten, beschleunigten und immer mehr individualisierten Kommunikation bekommen diese Wahrnehmungswelten etwas Ausschließendes. Um wenigstens einigermaßen Kohärenz in ihren Gehirnen herzustellen, sehen sich viele Menschen genötigt, ganze Faktenpakete auszublenden und sich auf Glaubenssätze zurückzuziehen.

Glauben Sie an den von uns Menschen verursachten Klimawandel? Oder glauben Sie, dass es ihn so nicht gibt? Glauben Sie an die Vorteile der Globalisierung? Oder glauben Sie an die negativen Folgen der Globalisierung? Glauben Sie an den positiven Einfluss der Digitalisierung auf unser Leben? Oder glauben Sie, dass die Digitalisierung unser Leben insgesamt zum menschlichen Nachteil verändert? Das sind wichtige Fragen, und vieles spricht dafür, dass jeweils beide Seiten etwas zur Wirklichkeit beitragen. Aber dies sind keine Glaubensfragen. Es sind Fragen nach Fakten, die so klar – wenn auch vielschichtig – beantwortet werden können, wie Newtons Frage nach einem Gesetz der Schwerkraft. Trotzdem ist die Schwerkraft etwas Faktisches. Glauben Sie an die Schwerkraft? Versuchen Sie mal, nicht dran zu glauben! Der Apfel fällt, ob wir es glauben wollen, oder nicht.

Glauben Sie an die Zahnfee? Das ist eine sinnvolle Glaubensfrage, denn wenn wir nicht daran glauben, gibt es die Zahnfee für uns nicht! An die Zahnfee zu glauben ist ein Zeichen von Fantasie. Nicht an die Schwerkraft oder den Klimawandel zu glauben, ist ein Zeichen von Verwirrung. Und doch haben viele Menschen, ja ganze politische Gruppierungen, die Skepsis zum absoluten Glaubenssatz erhoben. Warum geschieht das? Warum fliehen Menschen in Glaubenssätze, wenn die Fakten verfügbar sind? Man kann ja immer noch unterschiedlicher Meinung sein. Aber doch nicht über die Existenz der Fakten, sondern nur über die Schlüsse, die wir daraus ziehen! Wie hat es der Philosoph Richard Precht einmal gesagt: Es gibt ein Recht auf eine eigene Meinung, aber keines auf eigene Fakten!

Bestätigungsfalle der Voreingenommenheit

Aber es geht nicht ums Recht. Auch nicht ums Recht haben. Es geht darum, wie unsere Gehirne sich individuell gegen die Überflutung mit Informationen schützen. Immer wenn wir etwas wissen müssen, um unsere Welt und unsere Rolle darin zu verstehen, brauchen wir Informationen. Wenn diese dann nicht erreichbar oder nicht eindeutig oder verständlich sind, dann müssen wir irgendetwas glauben, um wieder ein gewisses Gleichgewicht in unserem Gehirn herzustellen. Auch die meisten jener unter uns, die zum Beispiel die Aussagen des weit überwiegenden Teils der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler akzeptieren und um den Klimaschutz besorgt sind, haben sich an einem individuellen Punkt entschieden, zu vertrauen. Die wenigsten erfassen die Problematik in allen ihren faktischen Facetten und Einzelheiten. Wir müssen und können nicht alles selber wissen und bis ins letzte Detail durchdringen. Schon gar nicht in einer mit Informationen überfluteten Welt. So ist auch unsere Informationswelt arbeitsteilig organisiert. Das ermöglicht es unseren Gehirnen, bei Informationsbedarf und der daraus entstehenden Inkohärenz ganz schnell wieder ein Gleichgewicht und Kohärenz herzustellen. Es reicht, Informationsangebote von anderen anzunehmen. Unsere Gehirne arbeiten höchst ökonomisch und sie neigen nicht dazu, sich mit unnötigen Fakten zu überlasten. Kohärenz reicht.

Unsere eingebauten psychologischen Voreingenommenheiten leisten ihren eigenen Beitrag zu dieser Mechanik des Druckausgleichs. Unser Confirmation Bias ist wahrscheinlich der wichtigste Treiber jener selektiven Wahrnehmung.

Diese Bestätigungsvoreingenommenheit lässt uns vorrangig jene Tatsachen wahrnehmen, die unsere bisherigen Erfahrungen und Einstellungen bestätigen. Mit anderen Worten: Wir verstehen, was wir verstehen wollen. Damit Hand in Hand arbeitet der Reputation Bias, der uns hilft, Positionen einzunehmen, die unseren Ruf schützen.

Die Angst vor dem Gesichtsverlust sitzt tief. Und in einer Zeit digitaler sozialer Medien wird der individuelle Gesichtsverlust oft automatisch öffentlich gemacht. Das verstärkt die Angst und damit auch den Reputation Bias.

Das beste Beispiel für diese Voreingenommenheit ist wahrscheinlich das wirtschaftliche Schicksal des kanadischen Handyherstellers Blackberry. Schon 1999 waren Blackberrys in der Lage, E-Mails und Messages zu empfangen. Das war acht Jahre vor der Einführung des ersten iPhones. Und doch starb der Technologiekonzern den »Tod durch iPhone«. Man hatte einfach nicht einsehen wollen, dass der Blackberry ein Dinosaurier mit Tastatur war. Man kann sich die internen Memos gut vorstellen, die bis zum Schluss betonten, Blackberry sei auf dem richtigen Weg, seine Technologieführerschaft zu behaupten. Ob moderne Sozialstaaten den Weg des Blackberry gehen, darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aber es lohnt sich aufzupassen, dass wir nicht kollektiv in die Bestätigungsfalle laufen. Oder in die einer anderen Voreingenommenheit.

Dazu gibt es den sogenannten Default Effect. Unser Gehirn – effizient wie es ist – sucht immer nach einer Werkseinstellung. Das macht es halt einfacher, als wenn man jedes Mal neu überlegen und Situationen und Informationen neu durchdenken muss. Wie alle Voreingenommenheiten ist das also eigentlich ein hilfreicher Mechanismus. Allerdings ist der Default Effect auch der Stoff aus dem die festgefahrenen Glaubenssätze sind, bis hin zu Verschwörungstheorien. Doch auch in seinen weniger pathologisch ausgeprägten Formen ist dieser Bias gefährlich. Er verhindert Veränderungsprozesse, und das kann in einer sich dramatisch schnell entwickelnden Welt nach hinten losgehen. Vor allem, wenn der nächste Kandidat im Reigen der Voreingenommenheiten anspringt, der Negativitätsbias.

Negative Impulse haben in unserem Gehirn Vorfahrt. Das ist wichtig, es ist ein Schutzmechanismus, der unser Überleben sichern soll. Wir sind offener für emotional negativ wirkende Informationen, damit Warnmeldungen auf jeden Fall durchdringen. Der Feueralarm muss lauter sein als Beethovens Fünfte. Es macht keinen Sinn, sich über den schönen Blumenstrauß auf dem Wohnzimmertisch zu freuen, wenn drum herum die Hütte brennt. Den Fehler würde man nur einmal machen.

Auch hier gilt wieder: Ein eigentlich funktionaler, wichtiger Schutzmechanismus kann zur Informationsfalle werden. Journalistinnen und Journalisten können ein Lied davon singen:

Alle wünschen sich positivere Nachrichten! Wir sehnen uns alle nach Positivem, nach Harmonie. Nach Kohärenz im Gehirn. Und doch geben wir negativ aufgeladenen Botschaften den Vorrang.

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Das bedeutet umgekehrt, dass jeder, der sich auf dem völlig überfluteten Informationsmarkt durchsetzen will, geneigt ist, die eigenen Informationsangebote negativ emotional aufzuladen. Negativ ist wirksamer, und es ist leichter. Licht aus. Buh! Reicht. Hoffnungen, Optimismus, Freude zu verbreiten ist bedeutend schwieriger. Selbst die Weltkirchen, deren Kerngeschäft das ist, tun sich damit seit Jahrhunderten schwer und verfallen immer mal wieder ins Negative.

Alle diese Voreingenommenheiten sind Teil unserer menschlichen Anlagen. Sie sind wichtig, erfüllen wichtige Funktionen. Und sie stellen uns Wahrnehmungsfallen. Diese Fallen können für einen sozial Verantwortung übernehmenden Staat in eine Sackgasse der öffentlichen Meinung führen. Vor allem wenn die letzte in diesem Reigen der Voreingenommenheiten greift: der sogenannte Dunning-KrugerEffekt. Er ist nach zwei Sozialpsychologen der Cornell University benannt, die ihn so beschrieben haben: »kognitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen«. Man kann es einfacher sagen: Manche sind so doof, dass sie gar nicht verstehen, wie doof sie sind. Lustig – ja, als Wortspiel. Definitiv nicht lustig als Massenphänomen. Es deutet einiges darauf hin, dass wir tatsächlich Opfer des Dunning-Kruger-Effekts wären, würden wir übersehen, wie doof es wäre, die Blume unseres Sozialstaats einfach verwelken zu lassen.

Unsere Geschichte(n) vom Sozialstaat

Hier dient sich ein weiterer, an dieser Stelle abschließender Ausflug in unsere Gehirnwindungen an. Wir alle denken, verstehen und leben in Geschichten. Geschichten bauen die Zusammenhänge zwischen den Informationen, die wir aufnehmen. Diese Geschichten sind kein Entertainment, sie sind Verständnis. Wir erklären uns die Welt und unsere Rolle darin in Geschichten. Jeder hat seine eigene Geschichte, wie eine Abfolge von Episoden in einer lebenslangen Serie, in der er ganz natürlich die Hauptrolle spielt. Und diese Geschichten sind verwoben mit den Geschichten der anderen, den Geschichten über unsere Welt. Diese Geschichten sind nicht per DNA in unseren Gehirnen verankert. Sie sind erlernt, das Ergebnis unserer Erfahrungen, der Informationen, die wir aufnehmen und der Narrative, mit denen wir in unserem Leben konfrontiert werden. Wir treffen unsere Entscheidungen auf der Grundlage dieser Geschichten, der großen Lebensgeschichte und der kleinen Geschichten über das Leben und unsere Mitmenschen.

Und damit zurück zum Objekt dieser Überlegungen:

Was ist denn eigentlich die Geschichte, die wir uns gegenseitig über unseren Sozialstaat erzählen? Ist es eine Story der Hoffnung, des Mitgefühls und der Fürsorge und Verantwortung für unsere Mitmenschen? Die Erfolgsgeschichte einer Wirtschaftsnation, die sich einen funktionierenden Sozialstaat leisten kann und leisten will? Oder ist es die Geschichte eines teuren Problems, eines kontinuierlichen Missstands, einer nicht reparablen Einrichtung, die mehr Schaden anrichtet, als sie Gutes vollbringt?

Es geht nicht darum, etwas Verbesserungswürdiges schön zu reden, oder zugunsten eines günstigeren PR-Spins Probleme zu übersehen. Im Gegenteil: Sozialsysteme haben Probleme, immer, unter anderem weil Probleme ihr Kerngeschäft sind. Aber eben nicht das Problememachen, sondern das Lösen von Problemen. Das ist schwierig. Es ist teuer. Es erfordert das Erkennen und Anerkennen von Problemen. Und das erzeugt natürlich Unbehagen, Inkohärenz in unseren Gehirnen. Bei so einem komplexen Gebilde wie den Sozialsystemen in einem modernen Industriestaat des 21. Jahrhunderts sind Lösungen nicht leicht zu finden. Das verstärkt das Unbehagen und die Inkohärenz und macht sie nachhaltiger, als es irgendjemandem lieb wäre.

Das alles macht die Notwendigkeit einer hinlänglichen Finanzierung der Sozialsysteme trotz aller Kosten für viele so schwierig zu akzeptieren. Die Schwelle zum Verständnis dieser Systeme ist hoch. Und es ist ein in Studien nachgewiesener Fakt, dass wir das am ehesten als Information akzeptieren, was sich uns leicht erschließt. Welche Chance haben da die komplexen Notwendigkeiten der Sozialsysteme gegen die immerwährenden – und durchaus verständlichen – Unkenrufe, sie seien ein dysfunktionales schwarzes Loch, in dem unsere Steuergelder aufgesogen werden wie Sternenstaub!

Das alles zusammengenommen sieht auf den ersten Blick aus, wie eine ausweglose Situation, ein »catch22«. Die Menschen schauen in der neuen, global-digitalisierten Welt immer mehr auf sich selbst als Individuen und immer weniger als Teil eines Ganzen. Ihre immer komplexer werdende Welt zu verstehen wird immer schwieriger. Einfache Antworten und Scheinlösungen in Form von einfachen Glaubenssätzen werden niederschwellig wohlfeil geboten und lassen die Sozialsysteme oft aussehen wie einen extrem teuren Dinosaurier.

Ein Sozialsystem, das seine Mitarbeitenden zu Sozialfällen macht, ist kein funktionierendes Sozialsystem, sondern ein Feigenblatt. Und nicht funktionierende Sozialsysteme gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil in der Folge Menschen ausgegrenzt werden, die zu leichtfertigen Kirchgängerinnen und Kirchgängern simpler Glaubenssätze werden können.

Ein wirklich funktionierendes ganzheitliches Sozialsystem andererseits ist Ausdruck der Ernsthaftigkeit und Zivilisation einer modernen Demokratie. Es gibt Entwicklungen wie den bevorstehenden weiteren Wegfall von Hunderttausenden Industriearbeitsplätzen, die dieses funktionierende System notwendiger machen denn je.

Was muss geschehen, um diese einfachen Botschaften in einer Gesellschaft wieder zu verankern, die zwar auf ihre Sozialsysteme vertraut, wenn es darum geht, den sozialen Frieden zu bewahren, die aber nicht mehr an sie glaubt und schon gar nicht an die Notwendigkeit, in sie zu investieren?

Wenn man alles zuvor Gesagte annimmt, gibt es nur zwei – eigentlich relativ einfache – Lösungen.

Sozialsysteme brauchen Empathie – Empathie braucht Verständnis

Die menschliche Grundanlage zugunsten gegenseitiger Fürsorge und Empathie muss Menschen wieder berühren. Und ihre Umsetzung in staatliche Systeme muss leicht verständlich und einsehbar sein. Das heißt: Soziale Leistungen müssen als tatsächliche Leistungen erbracht werden, damit sie auch so verstanden werden. Dazu müssen die Systeme leistungsfähig sein. Die Sozialsysteme müssen als Aufgabe aller empfunden werden und nicht als Steckenpferd einiger fiskal-ignoranter Träumerinnen und Träumer

aus irgendeinem politischen Stuhlkreis. Das bedeutet eben auch, dass die Mitarbeitenden dieser Systeme nicht am unteren Ende der ökonomischen Nahrungskette gesehen werden dürfen. Sie tragen eine wichtige Säule einer modernen Demokratie. Die Middelhoff-mäßigen Magnaten unserer Wirtschaft könnten keinen Schritt mehr vor die Tür machen, wenn nicht Millionen von Idealistinnen und Idealisten in den Sozialsystemen wenigstens die größten Probleme abfederten. Es mag ja sein, dass doppelt gutverdienende Elternpaare heute das Gefühl haben, sie haben mit den Sozialsystemen keine Berührung. Aber was ist mit dem Sozialarbeiter, der sich in der Grundschule um die Gesundheit ihrer Kinder sorgt, der Lehrerin, die viele erzieherische Aufgaben übernehmen muss, die früher zu Hause erledigt wurden? Mit der Gesundheitsversorgung, die einspringt, wenn die teure private Krankenversicherung im Alter dann doch nicht mehr finanzierbar ist? Und dem Pflegeplatz für die demenzkranken Eltern. Ist es einfach toll, das alles zu haben, oder ist es unnötig und zu teuer? Tatsache scheint zu sein: Die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme berührt praktisch jedes Leben, aber noch lange nicht jedes Gemüt. So endet jede Diskussion über Investitionen an dieser Stelle in nicht enden wollenden Aufzählungen über alles, was da ganz teuer nicht funktioniert.

Aber wenn sie wirklich leistungsfähig gemacht werden, dann zeigen sie ihre Relevanz, weil sie dann positive Wirkung haben. Und dann ist ihre Sinnhaftigkeit niederschwellig einsehbar. Das ist der Break-Even-Point. Weil … wenn etwas ein – leuchtet, dann ist es auch mehrheitsfähig. Und das ist nun mal die Bedingung für politische Entscheidungen, wie eben jene über die Finanzierung der Sozialsysteme. Und wenn sie wirklich sichtbar etwas leisten, dann berühren sie unsere Leben auf eine positive Art und Weise. Und das trägt seinerseits dazu bei, dass Investitionen in diese Systeme angenommen werden.

Der Kampf um die Finanzierung der Sozialsysteme ist da klug, wo es um die »Was machen wir damit«-Frage geht. Wenn es hingegen immer nur um die »Was sollen wir damit«-Frage geht, ist er bereits verloren.

An dem Tag, an dem Mitarbeitende der Sozialsysteme offen und gern und begeistert und von sich aus in den sozialen Medien erzählen können, was sie heute für ihre Mitmenschen getan haben, ist die Diskussion über die Finanzierung der Sozialsysteme so kurz und ein - deutig wie die Diskussion über das 100-Milliarden-Euro Sondervermögen der Bundeswehr: Schnell beendet aus dem Impuls einer emotional motivierten Zustimmung.

Nur eben nicht aus Angst, sondern aus Begeisterung und Hoffnung. Und möglicherweise mit einem deutlich günstigeren Return on Investment.

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