Herausforderungen für den modernen Sozialstaat
Der Sozialstaat ist eines der beiden Versprechen, die in unserem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft stecken. Er sichert Menschen in Not die Würde, bietet den Schutz der Gemeinschaft gegen individuelle Lebensrisiken und honoriert Lebensleistung am Ende des Erwerbslebens. Er ist auch Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt: Denn ohne Absicherung trauen sich die Menschen nicht, Risiken einzugehen und Chancen zu nutzen. Der Sozialstaat darf aber nicht zum Magneten werden, der diejenigen, die ihm zu nahe kommen, nicht mehr loslässt. Stattdessen muss er aktivierend und aufstiegsorientiert sein. Er muss den Einzelnen zu einem unabhängigen Leben befähigen. Dabei gibt es auch eine Verantwortung derjenigen, die temporär Leistungen empfangen, gegenüber denen, die sich an der Finanzierung beteiligen. Das gilt für die arbeitenden Menschen in unserem Land ebenso wie für kommende Generationen, die bei heutigen Entscheidungen nicht unmittelbar mit am Tisch sitzen und trotzdem deren Konsequenzen zu tragen haben. Es ist darüber hinaus ein Gebot der Generationengerechtigkeit, dass wir den kommenden Generationen einen modernen Sozialstaat und tragfähige Staatsfinanzen hinterlassen.
Zugleich muss die Ausgestaltung des Sozialstaats dem internationalen Wettbewerb Rechnung tragen. Wer Unternehmensansiedlungen, Direktinvestitionen und hoch qualifizierte Fachkräfte für eine Tätigkeit in Deutschland gewinnen möchte, sollte die Belastung durch Steuern und Abgaben im Rahmen halten.
Risikotransformation und Stabilisierung in einer sich wandelnden Arbeitswelt
Die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie und des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordern den Sozialstaat. In früheren Epochen der Geschichte wäre ein Großteil der Menschen in Deutschland bei einem ähnlichen Ereignis in Existenznot geraten. Durch den Einsatz wirtschaftspolitischer und sozialstaatlicher Instrumente kann der Staat heute jedoch derartige Schocks bis zu einem gewissen Maße abfedern. Er deckt Grundbedürfnisse ab und sichert in erheblichem Umfang Einkommen, Beschäftigung, Gesundheit und Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger. Neben der Versicherungsfunktion im Krisenfall bietet der moderne Sozialstaat aber auch eine Absicherung gegen strukturelle langfristige Risiken. So werden Schlüsselbereiche menschlichen Daseins, wie bei der Erziehung, der Aus- und Weiterbildung, der Familiengründung, geschützt und gefördert. Die sozialstaatliche Absicherung schützt die Menschen vor existenziellen Nöten und kann sie gleichzeitig ermutigen, neue Wege und Risiken einzugehen.
Sie kann darüber hinaus unterstützen, sich wirtschaftlich neu zu betätigen und gesellschaftlichen Aufstieg zu suchen.
Sozialstaatliche Risikotransformation und die Förderung der Eigenverantwortlichkeit setzen jedoch voraus, dass Vertrauen in das soziale Sicherungssystem besteht und dauerhaft erhalten bleibt.
Das Vertrauen basiert auf mindestens drei Voraussetzungen: Erstens muss der Sozialstaat über Generationen hinweg finanziell abgesichert sein. Wäre die längerfristige Tragfähigkeit des Sozialstaats bedroht, wären weniger Menschen bereit, in Sozialversicherungen (SV) wie die Renten- oder Pflegeversicherung einzuzahlen. Zweitens muss der Sozialstaat auch in großen Krisen verlässlich handlungsfähig sein, um stabilisierend eingreifen zu können. Drittens sollten alle Menschen gleiche Chancen haben, um beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg für sich zu ermöglichen und gesellschaftlich aufzusteigen: Wirtschaft und Gesellschaft sollten durchlässig sein für kreative und fleißige Talente, unabhängig von ihrer Herkunft. Bislang sind in Deutschland allerdings der Bildungserfolg und damit die Chance auf beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg so stark abhängig von der sozialen Herkunft wie in kaum einem anderen OECD-Land. Ein Ziel des modernen Sozialstaats muss es also auch sein, die Chancengerechtigkeit, z.B. durch Investitionen in Humankapital und Bildung, zu erhöhen.
Prof. Dr. Joachim Ragnitz
Bundesminister der Finanzen
Bundesvorsitzender der FDP
1979 in Wuppertal geboren
2012 – 2017 Landesvorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen
seit 2017, zuvor 2009 – 2012 Mitglied des Deutschen Bundestages
2009 – 2011 Generalsekretär der FDP
2000 – 2009 Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags
1999 – 2006 Studium Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
1997 – 2004 Inhaber einer Werbeagentur sowie Mitgründer eines Internet-Unternehmens
Neben den aktuellen Krisen steht der deutsche Sozialstaat auch vor längerfristigen Herausforderungen. So wird in den kommenden Jahren die Anzahl an Rentnerinnen und Rentnern stark steigen und gleichzeitig die Anzahl der Erwerbstätigen deutlich sinken. Eine zentrale Ursache ist der Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1969 in das Rentenalter. Der Altenquotient gibt Aufschluss über die mit der voranschreitenden Alterung der Gesellschaft verbundenen Herausforderung für den Sozialstaat. Er zeigt die Relationen zwischen Menschen im Rentenalter (67+ Jahre) und jenen im Erwerbsalter (20 bis 66 Jahre), die bei einem Umlagesystem, wie wir es in Deutschland haben, im weitesten Sinne für die ältere Generation sorgen müssen – beispielsweise durch ihre Beiträge zur Rentenversicherung. Während im Jahr 2000 ein Rentner noch von fünf Erwerbstätigen finanziell »versorgt« wurde, waren es im Jahr 2021 nur noch drei Erwerbstätige. In den kommenden Jahrzehnten wird der Altenquotient voraussichtlich weiter ansteigen und im Jahr 2060 voraussichtlich rund 50 Prozent erreichen, sodass künftig nur zwei Menschen im Erwerbsalter einem Rentenbeziehenden gegenüberstehen werden.
Grund für den Anstieg des Altenquotienten sind zwei gegenläufige Trends in der Bevölkerungszusammensetzung: ein Anstieg der Zahl von Personen im Rentenalter, die auch durch eine steigende Lebenserwartung bedingt ist, bei gleichzeitig zurückgehender Zahl an Personen im erwerbsfähigen Alter, weil weder Geburten noch Zuzüge die hohe Zahl der Eintritte in den Ruhestand vollumfänglich ausgleichen. So ist seit Mitte der 1970er Jahre der Saldo der natürlichen Bevölkerungsbewegung, definiert als Geburtenzahl abzüglich Sterbefälle, negativ. Die Geburtenziffer stagnierte über Jahrzehnte unterhalb des Niveaus, das zum Erhalt des Bevölkerungsbestands erforderlich wäre. Die Differenz zwischen Zu- und Abwanderung ist zwar positiv und liegt im Durchschnitt seit 2017 bei knapp 340.000 Personen, allerdings bei sinkender Tendenz. Dies zeigt, dass die Alterung der Bevölkerung durch Zuwanderung nicht vollends zu kompensieren sein wird. Dennoch zeigen Projektionen, dass eine dauerhaft höhere Zuwanderung aus dem Ausland die Effekte des demografischen Wandels spürbar dämpfen würde. Das langfristige Wachstumspotenzial Deutschlands hängt auch davon ab, dass die wirtschaftliche Basis durch eine ausreichend große und produktive Erwerbsbevölkerung gesichert werden kann. Nur auf dieser Basis kann ein leistungsfähiger Sozialstaat errichtet werden und bestehen.
Finanzpolitische Herausforderungen für einen tragfähigen Sozialstaat
Die Ansprüche an den Sozialstaat sind über die Jahre gestiegen. Das wird deutlich am Sozialbudget, der Gesamtheit der Ausgaben einer Volkswirtschaft für soziale Zwecke. Die Sozialleistungsquote hat sich seit Beginn der 1990er Jahre – mit Ausnahme von einem sprunghaften Anstieg im Jahr 2009 – recht stetig von 24 auf rund 30 Prozent im Jahre 2019 erhöht (Abbildung 1). In den vergangenen beiden Jahren sprang sie infolge des sinkenden BIPs und der coronabedingten Mehrausgaben auf gut 33 Prozent. Entsprechend entwickelt sich der Anteil der Sozialausgaben im Bundeshaushalt (Abbildung 2). Betrug er Anfang der 1990er Jahre noch rund 30 Prozent, so ist er bis 2005 auf 51 Prozent angestiegen. Seitdem schwankt er um diesen Wert und wird voraussichtlich auch im Jahr 2027 auf diesem hohen Niveau liegen. Ursächlich für den Anstieg ist nicht zuletzt die zunehmende Übertragung von Finanzierungslasten der Länder auf den Bund, wie zum Beispiel die vollständige Übernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Infolgedessen sind große Teile der Ausgaben des Bundeshaushalts bereits bei Haushaltsaufstellung gebunden; der politisch frei verfügbare und für Investitionen verwendbare Spielraum sinkt. Entsprechend beschrieb der Bundesrechnungshof 90 Prozent der Ausgaben als »versteinert«.
Der Eintritt der Zinswende ist eine weitere Herausforderung für den Sozialstaat. Nach langjährig annähernder Konstanz sind die Zinsen seit Dezember 2021 deutlich gestiegen. Dies spiegelt sich auch in den Zinskosten des Bundes wider und verringert den finanziellen Handlungsspielraum bereits heute. Ein sich verfestigender Trend hin zu höheren Refinanzierungskosten würde diesen Effekt verstärken. Zusätzlich verengen Tilgungsverpflichtungen die Haushaltsspielräume. So bestehen ab dem Jahr 2028 bis 2058 hohe Tilgungsverpflichtungen aufgrund der während der Coronapandemie in Anspruch genommenen Ausnahmeregel der Schuldenbremse in den Jahren 2020 bis 2022. Diese verringern die zulässige Kreditaufnahme des Bundes in der Zukunft. Hinzu kommen ab dem Jahr 2031 Tilgungsverpflichtungen durch die im Jahr 2022 vom Wirtschaftsstabilisierungsfonds aufgenommenen Kredite für die zusätzliche Finanzierung von Maßnahmen eines wirtschaftlichen Abwehrschirms gegen die Folgen des russischen Angriffskriegs in den Jahren 2022 bis 2024.
Mittel- und langfristig drohen somit demografisch bedingt steigende Sozialausgaben in Kombination mit steigenden Zinsen und hohen zukünftigen Tilgungsverpflichtungen, die Spielräume im Bundeshaushalt erheblich einzuschränken. Bei einem weiteren Anstieg des Sozialausgabenanteils stiege die Gefahr, dass notwendige Zukunftsinvestitionen – etwa in die digitale und klimafreundliche Transformation – ausgebremst werden.
Der Anstieg der Sozialausgaben müsste durch einen entsprechend höheren Anteil der Sozialabgaben und Steuern am Bruttoarbeitnehmerlohn – dem sogenannten Abgabenkeil – refinanziert werden. Ein hoher Abgabenkeil führt auf Unternehmensseite zu höheren Lohnnebenkosten und reduziert dadurch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Aufseiten der Bürgerinnen und Bürger verringert er die Nettolöhne, die reale Kaufkraft und die Anreize zur Beschäftigungsaufnahme.
In Deutschland belaufen sich die Abgaben derzeit schon auf fast die Hälfte des durchschnittlichen Bruttolohns, davon sind wiederum etwa zwei Drittel Sozialabgaben. Entsprechend hat Deutschland schon heute den zweithöchsten Abgabenkeil aller Industrieländer.
Seit 2018 ist der Abgabenkeil für einen Einpersonenhaushalt mit Durchschnittseinkommen in Deutschland immerhin rückläufig. Dies ist allerdings nicht auf eine Senkung der Sozialabgaben zurückzuführen, sondern auf steuerpolitische Maßnahmen, wie die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für fast alle Einkommen,
die Erhöhung des Grundfreibetrags und den Ausgleich der kalten Progression bei der Einkommensteuer. Die Sozialabgaben stiegen hingegen infolge höherer Zusatzbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und des angehobenen Beitragssatzes in der sozialen Pflegeversicherung. Dieses Muster dürfte sich laut der Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute auch in den kommenden Jahren fortsetzen. Im Jahr 2022 wurden der Grundfreibetrag und der Arbeitnehmerpauschbetrag rückwirkend erhöht sowie eine Energiepreispauschale gezahlt. Dies wird gemeinsam mit den diesjährigen Anpassungen des Grundfreibetrags und des Einkommensteuertarifs zur Freistellung des Existenzminimums und zum Ausgleich der kalten Progression den Abgabenkeil tendenziell dämpfen; bei den Sozialabgaben besteht weiterhin die Gefahr eines Anstiegs.
Einen tragfähigen, leistungsfähigen und chancengerechten Sozialstaat sicherstellen
Die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu wahren ist ein zentrales Ziel der Finanzpolitik und Voraussetzung für einen leistungsfähigen, modernen Sozialstaat. Die Berechnungen im letzten Bericht des Bundesministeriums der Finanzen zur Tragfähigkeit aus dem Jahr 2020 zeigen, dass es Handlungs- und Anpassungsbedarfe gibt, damit die fiskalische Entwicklung langfristig auf einem tragfähigen Pfad bleibt. Die Coronakrise und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sind dabei noch nicht berücksichtigt. Aufgrund der zur Krisenbekämpfung notwendigen Ausweitung der Staatsverschuldung und der gestiegenen Zinsen hat sich der Anpassungsdruck weiter erhöht. Die steigenden Zinsen sind auch eine Folge der geldpolitischen Reaktion auf die hohe und steigende Inflationsrate. Eine galoppierende Inflation einzufangen und mit einer verankerten Inflationserwartung für eine verlässliche
Orientierung zu sorgen, ist das vorrangige Ziel der Geldpolitik. Eine tragfähige Finanzpolitik unterstützt die Geldpolitik in diesem Ziel und konterkariert sie nicht, denn sie vermeidet preissteigernde Impulse.
Der Hauptgrund für den Handlungsbedarf ist allerdings der ausgeprägte demografische Wandel in Deutschland. Die Alterung der Bevölkerung setzt vor allem die Sozialversicherungssysteme langfristig unter Druck. Daher müssen Möglichkeiten zur Steigerung der Erwerbstätigkeit sowie Reformen in den Sozialversicherungszweigen erwogen werden, um die fiskalische Tragfähigkeit zu verbessern. Deutschland sollte zudem als Einwanderungsland attraktiver werden und die Bleibeperspektive für eingewanderte Erwerbswillige erhöhen.
Mit Blick auf das Sozialversicherungssystem liegen zentrale Ansatzpunkte zur Bewältigung der Tragfähigkeitsrisiken darin, das Arbeitskräftepotenzial insbesondere von Frauen, Älteren und Zugewanderten zu fördern, die Nettozuwanderung von ausländischen Fachkräften dauerhaft durch einen Abbau von bürokratischen Hürden und ein modernes Einwanderungsgesetz zu erleichtern sowie die Qualifikationen der erwerbstätigen und erwerbsfähigen Bevölkerung zu verbessern.
Um die Tragfähigkeit langfristig zu gewährleisten, sind darüber hinaus Reformen in den Bereichen Rente, Gesundheit und Pflege erforderlich. Dazu zählt etwa die Stärkung der kapitalgedeckten Altersvorsorge als Ergänzung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente. Im Gesundheitssektor sollten zudem durch ausgabenseitige Reformen bei weiterer Verbesserung der Versorgungsqualität Effizienzpotenziale gehoben werden.
Die nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Rente und das Vertrauen auf eine auskömmliche Alterssicherung – als zentrale Merkmale eines modernen Sozialstaats – sind in Einklang zu bringen. Um die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung langfristig, generationengerecht und nachhaltig zu sichern, ist der Nachholfaktor wieder eingeführt worden. Die Koppelung der Renten an die Lohnentwicklung ist wiederhergestellt.
Zudem ist in dieser Legislaturperiode mit dem Generationenkapital der Einstieg in die teilweise Kapitaldeckung geplant. Das Generationenkapital soll als dauerhafter Fonds ausgestaltet werden, der von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle verwaltet wird und der global und breit diversifiziert am Kapitalmarkt investiert. Die anfallenden Kapitalerträge sollen zukünftig zur Beitragssatzstabilisierung und damit auch zur Begrenzung der Leistungen des Bundes an die gesetzliche Rentenversicherung beitragen. Einen nochmals deutlich höheren Beitrag zur langfristigen finanziellen Ausstattung der gesetzlichen Rentenversicherung würde die beitragsfinanzierte Aktienrente leisten.
Auch die Bereitstellung einer bezahlbaren und qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung und Langzeitpflege ist eine wichtige Komponente des modernen Sozialstaats. Allerdings ist die GKV stark defizitär: Es drohen deshalb stark zunehmende Beitragsbelastungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen. Im Jahr 2023 begegnet die Bundesregierung dieser Herausforderung mit einem Bündel stabilisierender Maßnahmen, die u. a. durch die Nutzung von Finanzreserven der gesetzlichen Krankenversicherung, Effizienzreserven in der Leistungserbringung sowie durch einen einmaligen zusätzlichen Bundeszuschuss spürbare Beitragssatzsprünge verhindern und gleichzeitig einen hohen Qualitätsstandard der Gesundheitsversorgung sicherstellen. Für die kommenden Jahre erwarten Fachkreise ein weiterhin hohes Defizit, sodass ohne ergänzende Maßnahmen weitere Belastungen der Beitragszahlenden drohen. Diese Defizite gehen überwiegend nicht auf die Pandemie zurück. Es ist deshalb nicht damit getan, diskretionär mit höheren Bundeszuschüssen zu arbeiten oder Beitragssatzerhöhungen zu verstetigen. Vielmehr sollten sich die Anstrengungen darauf richten, die strukturellen Ursachen der Defizite zu identifizieren und Effizienzreserven zu heben, ohne die Qualität der Versorgung zu mindern. Eine Strategie des »Value for Money« sollte jetzt Richtschnur reformerischen Handelns sein.
Einsparpotenzial wird von Expertinnen und Experten u. a. durch mehr sektorübergreifende Versorgung und Bedarfsplanung, eine Weiterentwicklung der Krankenhausstrukturreform mit Kapazitätsanpassung, stärkere Prävention, die Ausrichtung neuer Arzneimittel auf den Zusatznutzen und die Digitalisierung gesehen. Solche ausgabenseitigen Reformen sind im Koalitionsvertrag angelegt. Sie bieten eine Alternative zu einer einnahmenseitigen Konsolidierung unter steigender Belastung der Bürgerinnen und Bürger.
Umfassende Erwerbsbeteiligung würde die Tragfähigkeit verbessern. Daher sollte das Steuer-Transfer-System auf die Aufnahme einer möglichst weitgehenden existenzsichernden und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgerichtet werden. Dafür ist es erforderlich, die Transferentzugsraten in den Grundsicherungssystemen zu reformieren und die Anreize zur Beschäftigungsaufnahme zu steigern.
Es darf nicht attraktiver sein, soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen, anstatt ins Arbeitsleben zurückzukehren. Die Eigenständigkeit muss erstrebenswerter sein als die Abhängigkeit. Eigenverantwortung und eigene Leistungsfähigkeit sollten grundsätzlich Vorrang vor staatlichen Unterstützungsleistungen haben.
Hier hat die Bundesregierung schon erste Schritte getan, weitere sollten folgen. Mit dem Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 30. Juli 2022 wurde bereits die Anhebung der sogenannten Midi-Job-Höchstgrenze gesetzlich geregelt. Seit dem 1. Juli 2023 gelten mit der Einführung des Bürgergeldes erhöhte Freibeträge für Hinzuverdienste: Für Einkommen zwischen 520 Euro und 1.000 Euro wurde der Freibetrag auf 1.000 Euro angehoben. Zudem sollen Anreize zur weiteren Inanspruchnahme von Bildung gefördert werden. Berufliche Weiterbildungen werden zusätzlich unterstützt, um den Arbeitsmarkt mittel- und langfristig zu stärken. Denn Bildung und Aus- bzw. Weiterbildung sind die elementaren Voraussetzungen für individuelles Vorankommen und ein selbstbestimmtes Leben. Die Zeiten, in denen sozialer Aufstieg überwiegend von der sozialen Herkunft abhing, sollten wir hinter uns lassen.
Der moderne Sozialstaat sollte für zukünftige Krisen und den strukturellen Wandel gewappnet sein. Dafür ist eine tragfähige Finanzpolitik essenziell, die in Zeiten des Umbruchs stabilisierend für alle wirkt. Sozial ist nicht nur die Transformation von Risiken und der Ausgleich von Gegensätzen, sondern auch die Schaffung neuer Chancen für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Dafür lohnen sich reformerische Anstrengungen: für einen modernen Sozialstaat der Zukunft, der tragfähig, stabilisierend und chancengerecht gestaltet ist.