Lieber Bodo Ramelow, Sie sind im Westen geboren, groß geworden, haben dort lange gearbeitet, sind in den Osten gewechselt und jetzt Ministerpräsident – eigentlich der Paradelebensweg eines Föderalisten.
Das kann man wirklich so sagen. Tatsächlich ist für mich Föderalismus eine Grundeinstellung mit allen Höhen und Tiefen. Ich will eine Kindheitsgeschichte erzählen: Ich bin in Niedersachsen in die Schule gegangen, dann gab es die große Schulreform in Westdeutschland und es wurden Kurzschuljahre eingeführt. Ich hatte das Vergnügen, zwei Kurzschuljahre in Niedersachsen zu erleben. Dann starb mein Vater, meine Mutter zog zurück nach Rheinhessen in ihr Elternhaus, und ich erlebte noch mal zwei Kurzschuljahre. Ich fand das sehr kurios, denn damit war ich noch schneller aus der Schule raus. Aber das ist etwas, was für Westdeutsche normal ist. Dann hab ich gelernt, als ich vor 30 Jahren hierherkam: Für Ostdeutsche ist das völlig unbekannt, das empfinden die Menschen hier als systemfremd. Der DDR-Bürger sagt: »Ich will eine Schule. Ich will da keine Vielfalt, und ich will da keine Unterschiede.« An der Stelle wird klar:
Zwischen Deutschland-Ost und Deutschland- West besteht sogar ein emotionales Problem, Föderalismus zu spüren, zu empfinden.
Umgekehrt hab ich vor 30 Jahren gelernt, wie stark der Drang der Menschen
in den Bezirken Erfurt, Gera oder Suhl war, zu einem Bundesland zusammenzukommen. Der Freistaat Thüringen war ja der erste gemeinsame Staat, den es überhaupt hier in der Region gab – einer kulturell reichen Region, von der Impulse für ganz Europa ausgingen. Aber im Zusammenschluss der DDR und der Gleichschaltung ist dieser Teil der Eigenverantwortung, der kommunalen Eigenverantwortung wie auch der des Landes, nicht nur formal abgeschafft, sondern radikal ausgetrieben worden. Da wiederum spielt Föderalismus eine ganz gewichtige und identitätsstiftende Rolle: Wie kommen wir wieder hin zu mehr lokalen Akteuren, mehr lokaler Verantwortung?
Ist, damit das lokal gelingt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den 16 Bundesländern notwendig? Das heißt, müssen im Föderalismus auch die starken Länder ein Eigeninteresse haben, dass die 16 irgendwo Grenzen nicht überschreiten, dass der Unterschied nicht zu groß wird?
Das ist die Grundbedingung. Das habe ich jetzt sechs Jahre lang als Ministerpräsident erlebt, leider auch die Grenzen dessen. Der Länderfinanzausgleich, wie wir in jetzt haben, ist dafür ein Beispiel. Er bildet einfach nur einen Status quo in der Differenz Ost-West ab und hat keinen inneren Verbesserungsimpuls gesetzt. Ich habe das damals akzeptiert, weil ich die Machtverhältnisse der 16 Länder abgeschätzt habe. Die Alternative wäre ein noch weiteres Absinken gewesen, weil man den Soli einfach unfair miteingepreist hat. Der Soli, der ursprünglich den Aufbau Ost voranbringen sollte, war am Ende ja nur noch Geld für den Bundeshaushalt. Daraus hat man den neuen Ländern dann ab und zu ein bisschen was gegeben. Hinzukommen Strukturfehler wie das AÜG, also die Überleitung des öffentlichen Dienstes aus der DDR auf die Bundesländer Ost. Das ist bis heute nicht korrigiert worden.
Bodo Ramelow
Ministerpräsident
des Landes Thüringen
1975 in Osterholz-Scharmbeck geboren
1970 – 1973 Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann
1981 – 1990 Gewerkschaftssekretär Mittelhessen
1981 – 1990 Landesvorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen Thüringen
1999 – 2005 Mitglied des Thüringer Landtages
2001 – 2005 und 2009 – 2014 Fraktionsvorsitzender der Linken im Thüringer Landtag
2005 – 2009 Mitglied des Bundestages, Stellvertretender Vorsitzender der Linken
Das sind die Sonderrenten aus der DDR-Zeit
Richtig. Der Amtsarzt einer Kommunalverwaltung, beispielsweise, wäre in Westdeutschland immer Beamter und immer im Beamtenrecht eingebunden gewesen, in Ostdeutschland war er aber kein Beamter. Also ist er rausgerechnet und den Ländern anheimgestellt worden. All diese Besonderheiten, wo ich gesagt habe, es wäre wenigstens mal fair, wenn man den gesamten öffentlichen Dienst der DDR in Relation setzen würde zum Durchschnitt der Belastung der westdeutschen Kollegen. Insofern hat die Überleitung AÜG, also die Rentenlast öffentlicher Dienst, sogar zu einer Verschärfung des Ost-West-Problems geführt. Das ist eine besondere Belastung, die nur die neuen Länder haben. Und dann gibt es noch eine Benachteiligung, die leider auch völlig überdeckt worden ist. Das sind die ganzen Sonderrententatbestände. Da ist im Westen immer die Rede von SEDNähe, die meine ich überhaupt nicht, ich meine nicht die politischen Rentner. Sondern ich meine die geschiedene Ehefrau, die einfach durch das Problem, wenn sie 1988 bis 1995, wenn sie in dieser Zeit ein Scheidungsverfahren hatte, verlieren diese Ehefrauen Ost komplett ihren Anteil an dem Rentenanteil des Ehemanns, was in Westdeutschland überhaupt nicht denkbar wäre. Solche Besonderheiten sind bis heute nicht repariert. Das führt dazu, dass wir auch einen Teil der Bevölkerung im Osten haben, bei dem bis heute diese Benachteiligung massiv wirkt. Deswegen habe ich immer das Konzept der Grundrente massiv unterstützt.
1990 bis 1992 sind Fehler passiert, die man gar nicht sehen konnte. Das werfe ich niemandem vor. Aber zehn Jahre danach hätte man schon spüren können, was alles falsch läuft.
Ist das eine der schwierigen Seiten des Föderalismus, dass man dafür heute wahrscheinlich weder im Bundestag, erst recht nicht im Bundesrat, eine eigene Mehrheit bekäme? Gerade aus der eigenen Betroffenheit der West-Länder, die sagen: »Jetzt ist aber mal gut.«?
Genau deswegen gibt es ja die Ost-Ministerpräsidenten-Konferenz. Als ich Vorsitzender der Ost-MPK wurde, habe ich die meisten Telefoninterviews mit westdeutschen Radiosendern gegeben, die mir alle gesagt haben, wozu es diesen
Quatsch eigentlich bräuchte. Und immer wenn du dann erzählt hast, was da noch falsch läuft, kam am anderen Ende eher so ein Genervtsein, dass man damit bitte nicht belästigt werden möchte. Ich halte das aus, aber die betroffenen Menschen, die spüren einfach: Ihr wollt über unser Thema gar nicht reden. Ihr wollt auch nicht, dass das jetzt irgendwie korrigiert wird. Und dann kommt tatsächlich die Geschichte, dass die westlichen Bundesländer sagen: »Ach, jetzt ist aber gut. Ihr habt jetzt so viel Geld gekriegt. Jetzt seid doch mal dankbar.« Ja, aber wir sind immer noch bei einer originären Steuerkraft von 60 Prozent. Und wir haben ein Lohngefüge, das bei 80 Prozent liegt. Das heißt die alte DDR-Grenze ist immer noch ökonomisch sichtbar auf der Landkarte der Bundesrepublik Deutschland.
Das ist kein Jammern. Denn es geht um eine prinzipielle Frage, darum dass die neuen Länder so lange zu bevorzugen sind, bis die Benachteiligung überwunden ist.
Und wenn man das nicht akzeptieren will, dann wird es einfach schwierig im Verhältnis zueinander, weil sich dann die Starken wieder den Rest so organisieren, dass die Schwachen geduldet werden, aber keine neue Stärke dadurch entsteht.
Aber wird das im Föderalismus nicht immer so sein, dass, bei aller Solidarität, der Starke dann doch eher auf sich schaut? Wenn wichtige Einrichtungen der Industrie kommen, gehen sie eben nach Bayern oder in den Rest des Westens. Kann das überhaupt auflösbar sein?
Es könnte nur auflösbar sein, wenn wir eine andere Form der Steuerverteilmechanik hätten, also wenn wir die Wertschöpfung, die in Deutschland insgesamt erarbeitet wird, erst mal addiert bekämen, und wir dann aus der Wertschöpfung unseren Anteil kriegen. Ich mach es ganz konkret: Wir haben von Daimler die Motorenfabrik hier in Kölleda. Hoch erfolgreich und hochmodern. Abgerechnet wird aber der Wert des Motors als bloßer Materialwert hier in Thüringen. Der Gesamtwert hingegen, den Daimler abrechnet, wenn das Auto verkauft wird, wird in Stuttgart geltend gemacht. Das heißt, der Mehrwert – all die Teile, die zusammenkommen – wird innerdeutsch nur einem einzigen Bundesland gutgeschrieben.
Wäre das falsch zu behaupten, das wird sich in den nächsten Jahrzehnten überhaupt nicht ändern?
Solange die Machtverteilung, auch die emotionale Machtverteilung so ist, dass die Starken ihre Stärke verteidigen, ist zu befürchten, dass sich wenig ändern wird.
Nur wenn klar ist, dass das, was auch ihren Standort in Stuttgart so stark macht, ein Teil der Stärke ist, die aus Thüringen oder Sachsen-Anhalt mitgeliefert wird, wird sich daran etwas ändern. Das ist ja der Punkt, wenn ich sehe, dass von den 500 dominanten Konzernen 462 ihren Firmensitz im Westen haben, und ich auf meine zwei, drei kleineren aufpassen muss wie auf meinen Augapfel. Es gibt allerdings auch wenige, positive Ausnahmen. Carl Zeiss als Stiftung ist zwar in Westdeutschland etabliert, weil sie nach 1945 nach Westdeutschland gezogen sind. Die Wiedervereinigung der beiden Zeiss-Teile zur heutigen Gesamtstiftung führt dazu, dass Jena einen unglaublich hohen Anteil an Produktivität für Zeiss liefert. Dafür hat aber die Zeiss-Stiftung etwas gemacht, was ich ihnen hoch anrechne, sie haben nämlich eine neue Firma gegründet, die Carl Zeiss Meditec, als eigene Tochtergesellschaft, und die hat ihren Firmensitz wieder in Jena. Das heißt, dort bekommen wir endlich auch eine Steuerquote mitausgeschüttet, die für Jena wirkt. Das ist aber die Ausnahme. Die großen Aktiengesellschaften, die börsennotiert sind, machen das alles nicht. Die sorgen dafür, dass das alles bei ihnen an den Hauptsitzen ist.
Was auch historisch schade ist, weil doch viele der großen Konzerne hier aus dem ehemaligen Osten kommen …
Man darf nie vergessen, der mitteldeutsche Raum war mal die Wiege der deutschen Industriealisierung. Diese Spuren sieht man noch in den Städten. Wenn du heute durch Gera gehst, siehst du diese wunderbaren Villen, du siehst das Theater und das Mehrspatenhaus – du siehst die Pracht. Es war mal eine der reichsten Städte im deutschen Kaiserreich. Plauen, Zwicken, Gera – das war mal das Herzstück deutscher Industriegeschichte. Da haben wir überhaupt nicht mehr angeknüpft. Die DDR hat das noch versucht, ein stückweit durch Verteilung und Verteilungsmechanismen. Ich sehe das bei meiner Familie väterlicherseits, die aus der Altmark kommt. Die Altmark ist dann ein wenig gefüttert worden, indem man ein bisschen nachsorgende Industrie in die Region dort verteilt hat.
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Danach ist das eingesetzt, was die Altmark schon immer ausgemacht hat: Die Altmark war immer die Sandbüchse in Preußen, und sie war immer das Stück Armut, das dort an jeder Haustür geklopft hat.
Das heißt, in Gera ist Zukunft sozusagen eher spärlich und in Stuttgart gehen die Mieten durch die Decke. Darüber schwebt das Grundgesetz und sagt: Wir wollen unseren Bürgern die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bieten. Kann die Politik diesen Anspruch überhaupt einlösen und diese Unterschiede aufbrechen?
Der Soli II sollte im Kern aufgelöst werden durch einen neuen Denkansatz, nämlich durch die Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse. Ich hatte schon den Verdacht, als es in Gang gesetzt worden ist, dass man dort die OstWest-Thematik komplett unterpflügt. Der Soli sollte ja etwas darstellen von zwei im Kalten Krieg miteinander konkurrierenden Staaten, die sich wieder zu einem Nationalstaat zusammengefügt haben. Eigentlich eine glückliche Stunde der Deutschen. Das Ganze ohne jeden Schuss, ohne jede Gewalt, etwas, was sich in Deutschland bis dahin niemand vorstellen konnte. Deswegen war der Soli als innerdeutsche Kraftanstrengung gut und richtig. Aber dann hätte man tatsächlich auch dafür sorgen müssen, dass man nicht nur ein bisschen Straßen pflastert und ein bisschen Infrastruktur von außen her macht. Wenn du nicht die Vielfalt hast, um wirtschaftliche Kraft zu generieren, wenn nicht dafür Sorge getragen wird, dass die Wertschöpfung, die entsteht, auch gerecht verteilt wird, dann bleibt der Osten nur ein Zulieferland. Dann sind wir nur die verlängerte Werkbank, wenn es um die Big Points in der Verteilung geht. Umgekehrt sag ich, ich bin froh, dass wir viele kleine und mittelständische Unternehmen haben. Ohne die würde das, was wir mittlerweile an Wirtschaftskraft haben, sich gar nicht abbilden. Jedenfalls hat die Kommission, die das debattieren sollte, diese Aufgabe nicht lösen können, weil am Ende die Ost-West-Problematik dort nur noch unter den Teppich gekehrt und nicht als eigenständiges Thema gesehen worden ist
Man hat dann einfach gesagt: Also, ein Soli III, da drüber reden wir erst gar nicht. Das aber bedeutet faktisch, dass wir die Ungleichheit nicht nur zementieren, wir verschärfen sie sogar.
Das ist meine Einschätzung zudem, wo wir gerade sind. Deswegen glaube ich nicht daran, dass wir derzeit einen funktionierenden Ausgleichsmechanismus haben. Und ich muss es klar sagen: Der Föderalismus wird seit Jahren von Innen her ausgehölt, seitdem man angefangen hat, den Föderalismus als Wettbewerbsföderalismus umzubauen. Wer den Wettbewerbsföderalismus als Alternative zum Ausgleichsföderalismus thematisiert, also wer die Ausgleichsfunktion des Grundgesetzes übersetzt in Wettbewerbsföderalismus, der sagt, die Starken holen sich das, was sie brauchen. Ein Beispiel dafür ist die Übertragung der Bezahlung von Lehrern, der Beamtengehälter und so weiter auf die Länder.
Da die Länder nicht zu weit auseinanderdriften dürfen, nehmen dann doch die starken Länder in Kauf, dass bei gleichem Anspruch der Bund immer mehr zum Unterstützer der schwächeren Länder wird. Das heißt, die Ebenen verschieben sich immer weiter, der Bund gerät immer mehr auf die Ausgleichsebene der Länder. Wird der Föderalismus sein Gesicht in den nächsten zehn Jahren wandeln?
Davon ist im Moment stark auszugehen. Es ist teilweise auch mit Vorsatz geschehen. Zumindest haben wir es versäumt, eine ehrliche Diskussion über das Verhältnis Bund zu den Ländern zu führen. Die Bundesrepublik Deutschland, wie schon der Name sagt, ist eine Republik, die aus einem Bund gebildet ist, und der Bund, das sind die Länder. Zusammen sind die Länder das Fundament des Staatsaufbaus. Und die Steuereinnahmen werden über die Finanzämter der Länder einkassiert. Den bundesrechtlichen Rahmen, den setzt das Bundesparlament, also Steuerquoten, Steuerhöhen und Steuerverteilung. Wenn dann aber der Bundesfinanzminister sagt: Ich werde jetzt mal mit dem Füllhorn der Wohltaten durchs Land gehen in der Hoffnung, dass man damit die Länder sozusagen in eine neue Solidarität hineinbringt, dann ist das nicht die Solidarität der Länder miteinander, sondern die Solidarität zum Bund. Das scheint mir eine unkluge Entwicklung zu sein
Ein Bild der vergangenen Monate – wir wollen zum Schluss kurz auf die ThüringenWahl kommen – ist der ausgelassene Handschlag. Das war und ist ein sehr symbolisches Bild. Was ist hier passiert in den vergangenen Monaten, gesellschaftlich, politisch, auch bei Ihnen selber, dass das im deutschen Parlamentarismus soweit kommen konnte, einmalig in der Nachkriegsgeschichte?
Dazu muss man wissen, dass Herr Höcke fünf Jahre zuvor mir auch nicht die Hand gegeben hat. Er ist nicht mal aufgestanden. Insoweit war es sehr verlogen, dass er jetzt aufgestanden ist, nachdem er die Verantwortung dafür hat, dass öffentlich gesagt wurde, man habe dem FDP-Kandidaten eine Falle gestellt. Das hat Herr Möller, der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, in jede Kamera gesagt. Also eine Ministerpräsidentenwahl als Falle – und dann kommt der Fraktionsvorsitzende, der fünf Jahre zuvor demonstrativ sitzen geblieben ist, und stellt sich hin, weil natürlich die Anzahl von Fernsehkameras nach diesen Vorkommnissen sich vervielfacht hat. Da hab ich ihm ins Gesicht gesagt, dass er vor fünf Jahren auch sitzen geblieben sei und er auch jetzt sitzen bleiben könne. Ich habe im gesagt, dass eine Fraktion, eine Partei, die die Wahl eines Verfassungsorgans als Falle bezeichnet, dass eine solche Partei was zu klären hat. Das habe ich dann in meiner kurzen Ansprache noch mal erläutert, dass ich zwar dazu bereit wäre, auch Herrn Höcke die Hand zu geben, wenn er die Demokratie verteidigt. Aber dazu müsste er erst mal willens sein, die Demokratie zu verteidigen. Ich erlebe immer nur die andere Seite von ihm. Ich erlebe immer die bewusste Provokation. Und nichts anderes war das, als er da stand. Er wollte auch durch den Handschlag provozieren. Ich hab mich nicht provozieren lassen. Das ist der Ablauf in der Sekunde, die alle Welt gesehen hat. Diese Verächtlichmachung der Demokratie ist es, die mich da umtreibt. Unabhängig davon, wie es zu der Wahl von Herrn Kemmerich gekommen ist, sind die Aussagen, die eine Sekunde später vom Vertreter der AfD gegenüber der Presse gemacht worden sind, das eigentliche Thema, bei dem ich sage: Wer solche Formulierungen in die Kameras sagt, bei dem muss man nicht nur einmal hingucken, bei dem muss man zehnmal hingucken, was er eigentlich da tut, nämlich die Zerstörung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie.
Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass eine AfD so viel Unterstützung durch die Wähler in Thüringen bekommt?
Nach dem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000 hat der damalige Ministerpräsident Bernard Vogel die Universität Jena gebeten, Jahr für Jahr den Thüringen-Monitor zu erstellen. Der hat uns immer schon aufgezeigt, dass 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung anfällig sind für totalitäre Denkmuster.
Das ist nicht der Beleg dafür, dass es alles rechtsgesinnte Menschen sind. Das wäre eine falsche Schlussfolgerung. Dazu zählen auch Menschen, die sich sogar eher links verstehen würden – Menschen, die mit dem Föderalstaat nichts anfangen können, die sich eine starke Hand wünschen, die finden, die da oben müssten nur mal richtig gesagt kriegen, wo es langgeht, und denen da oben muss man mal sagen, was los ist, und wenn wir nicht zur Wahl gehen, dann wird hier was passieren. Dieses Empfinden ist auch ein Erbe der DDR, die den offenen Streit als Teil der politischen Kultur nicht zuließ. Der Streit in der DDR oder auch der Zorn auf den Staat wurde im Zweifelsfall kanalisiert durch eine Eingabeverordnung. Das Ganze wurde dann später wiederum kanalisiert, also bei diesen sächsischen Lichtermärschen, die dann sehr merkwürdig wurden, und am Ende hat sich das auch Bahn gebrochen in Pegida. So hab ich mir jedenfalls das immer ein Stück weit erklärt. Und ein Teil des Erfolges der PDS ist davon gewiss auch geprägt. Andererseits war es mir schon damals völlig unangenehm, die Art und Weise, wie über den Osten geredet wurde, diese erwartete Dankbarkeit gegenüber dem Westen. Das Problem ist, jetzt bin ich kein Ostdeutscher. Ich behaupte nie, dass ich Ostdeutscher sei. Ich lege Wert darauf, dass ich mit der Wende erst hierhergekommen bin. Ich bin sehr früh hergekommen, seit Anfang 1990 bin ich in Erfurt. Davor war ich regelmäßig in der Altmark bei meiner Familie zu Gast. Aber erst Ende 1990 habe ich wirklich begriffen, dass meine ganzen Besuche in der Altmark sich in einer fremden Welt abgespielt haben. Wenn meine Schwägerin davon erzählt hat, was sie als BGLerin macht oder so, das habe ich interessiert gehört, aber wirklich verstanden habe ich es nicht. Erst danach habe ich angefangen, mir das zu übersetzen.
An manchen Stellen habe ich dann gedacht: Es wäre manchmal fast einfacher gewesen, wir hätten zwei verschiedene Sprachen gesprochen, dann hätten wir uns mehr Mühe gegeben zu hinterfragen, ob das, was du jetzt gerade formuliert hast, wirklich das ist, was der andere genauso empfindet.
Weil wir aus zwei verschiedenen Welten gekommen sind. Da hab ich den Satz von Willy Brandt verstanden, dass da zusammenwächst, was zusammengehört. Aber wachsen heißt wachsen und nicht zusammendonnern. Dass dieses Empfinden und diese Sehnsucht nach dem, was fehlt, von Höcke und Co bedient wird, das ist ein Teil des Problems, das wir haben, dass bestimmte Probleme einfach nicht angefasst worden sind.